Schlotterbeck als Linksverteidiger: Diese Vorteile bringt es dem DFB-Team

In der zweiten Hälfte des Viertelfinal-Hinspiels der Nations League gegen Italien brachte Bundestrainer Julian Nagelsmann Nico Schlotterbeck als Linksverteidiger. Eine Variante, die durchaus Zukunft haben könnte.
Matteo Politano, Nico Schlotterbeck
Matteo Politano, Nico Schlotterbeck / Chris Ricco/GettyImages
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Seit einem Jahr kämpfen David Raum und Maximilian Mittelstädt um den Platz in der Startelf auf der linken Abwehrseite des DFB-Teams. Hinzu kommen Robin Gosens und Nathaniel Brown, die sich mit überzeugenden Saisons in ihren Vereinen für zukünftige Nominierungen empfehlen. Doch ausgerechnet jetzt, wo die Linksverteidigersituation beim DFB so gut aussieht wie lange nicht, greift der Bundestrainer auf eine Variante zurück, die die deutschen Fans aus Tagen kennen, in denen kein Linksverteidiger von internationalem Format zur Verfügung stand.

Beim 2:1-Sieg gegen Italien am Donnerstag kam für den schwächelnden Raum nicht etwa Konkurrent Mittelstädt zur Pause in die Partie, sondern Innenverteidiger Nico Schlotterbeck. Ein Innenverteidiger links hinten, zwangsläufig werden Erinnerungen an die WM 2014 wach, als Deutschland mit Benedikt Höwedes als Linksverteidiger den Titel holte. Höwedes hatte - wie Schlotterbeck - die Position im Verein zuvor nur selten gespielt und spielte sie auch nach dem Turnier in Brasilien kaum noch in der Nationalmannschaft.

Zwischen Höwedes 2014 und Schlotterbeck 2025 gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Schlotterbecks Beorderung auf die Außenposition ist im Gegensatz zu Höwedes keine Notlösung. Trotz starker Alternativen und nicht mangels solcher könnte die Variante aus der zweiten Halbzeit des Viertelfinal-Hinspiels der Nations League Zukunft haben. Grund dafür: Schlotterbeck als Linksverteidiger zu haben, bringt dem Spiel des DFB-Teams einige Vorteile.

Trotz 4-2-3-1 setzt Nagelsmann auf eine Dreierkette

Um diese Vorteile zu verstehen, muss man zunächst den taktischen Ansatz des Bundestrainers verstehen. Nagelsmann legt viel Wert darauf, im eigenen Ballbesitz eine Dreierkette in der letzten Linie zu haben. Das hat verschiedene Gründe: Zum einen ist seine Mannschaft so bei Ballverlusten gut abgesichert und nur schwer auszukontern. Zum anderen stellt die Dreierkette im Aufbau die gegnerische Mannschaft bei deren Herangehensweise im Pressing vor Probleme. Wenn der Gegner die drei Aufbauspieler nur mit zwei Spielern anläuft, ist immer ein Spieler frei und hat viel Zeit, um einen progressiven Pass zu spielen. Läuft der Gegner die Dreierkette mit drei Spielern an, öffnen sich weiter vorne auf dem Feld zusätzliche Räume und die deutsche Offensive ist nie in Unterzahl, da ein zusätzlicher Verteidiger fehlt, der nun hoch pressen muss. So sind nun Räume für Offensivkünstler wie Jamal Musiala und Florian Wirtz (sobald dieser zurück ist) geschaffen, um ihre Fähigkeiten auszuspielen.

Weiter vorne auf dem Feld möchte Nagelsmann viel Druck auf die Abwehrreihe des Gegners ausüben und regelmäßig Überzahl in gefährlichen Räume schaffen. Strafraumbesetzung ist das Stichwort, je nach Situation sollen zwischen vier und sechs Spieler mit in die Nähe des gegnerischen Tores gehen und so dafür sorgen, dass ein Spieler in einer guten Abschlussposition frei steht. In der Regel mit dabei: die beiden Außenverteidiger. Sie sollen im eigenen Ballbesitz hoch an den Außenlinien stehen und so das Spiel breit machen, während sich die Offensivspieler ins Zentrum orientieren.

Da Nagelsmann jedoch auf ein 4-2-3-1 setzt, bedeutet das, dass von den vier Verteidigern nur die zwei Innenverteidiger in der letzten Linie bleiben. Um die Dreierkette zu bilden, muss sich nun ein Sechser auf dieselbe Höhe mit den Verteidigern fallen lassen. Den Raum vor der Dreierkette besetzt dann nur noch der andere der beiden defensiven Mittelfeldspieler.

Neues Personal sorgt für neue Taktik

In der Vergangenheit hat diese taktische Idee auch sehr gut zu dem Personal der deutschen Nationalmannschaft gepasst. David Raum und Maxi Mittelstädt auf der linken sowie Joshua Kimmich auf der rechten Seite drängte es als Außenverteidiger ohnehin nach vorne. Toni Kroos als zentraler Aufbauspieler spielte seine gefürchteten Pässe auch schon im Verein seit Jahr und Tag am liebsten von der halblinken Seite auf Höhe der Innenverteidiger. Robert Andrich kannte seine Rolle auch bereits aus Leverkusen, wo Xabi Alonso auf einen ähnlichen Ansatz wie Nagelsmann setzt. Als zentraler Mittelfeldspieler sollte er vor der Dreierkette die Bälle mit dem Rücken zum Spiel empfangen und entweder selbst aufdrehen oder den Ball möglichst mit einem Kontakt zu einem frei stehenden Mann in der Dreierkette weiterleiten.

Inzwischen hat sich die Personalsituation jedoch stark verändert. Toni Kroos hat seine Karriere beendet, Robert Andrich spielt zur Unzufriedenheit des Bundestrainers derzeit nur selten von Anfang an bei der Werkself. "Wenn ich mit Blick auf die WM eine Sorge habe, dann ist es, dass manche Spieler zu wenig spielen", erklärte Nagelsmann zuletzt in einem Interview mit der FAZ und nannte Andrich dabei namentlich als einen dieser Spieler.

Der formstärkste deutsche zentrale Mittelfeldspieler zurzeit - neben Joshua Kimmich, der beim DFB als Rechtsverteidiger aufläuft - ist hingegen Bayerns Leon Goretzka. Und so stand der 30-Jährige, der rund ein Jahr nach seiner Ausbootung kurz vor der Heim-EM erstmals wieder nominiert worden war, in Mailand sofort wieder in der Startelf. An seiner Seite spielte Dortmunds Pascal Groß. Die Doppelsechs Groß-Goretzka zwang den Bundestrainer dazu, umzustellen, da sie ein anderes Stärkenprofil mitbringt, als die Duos, auf die Nagelsmann zuvor setzte.

Goretzkas größte Stärke ist seine Torgefahr, die er durch präzise getimte Läufe in den Strafraum immer wieder ausspielen kann. Probleme bekommt der Bayern-Profi jedoch, wenn er unter Druck angespielt wird und dann Bälle sauber weiterleiten muss. In der ersten Halbzeit gegen Italien versuchte Nagelsmann, diese Schwäche zu kaschieren, indem er Goretzka die Dreierkette im Aufbau mit den Innenverteidigern Jonathan Tah und Antonio Rüdiger bilden ließ. So musste Goretzka nicht mit dem Rücken zum Spiel den Ball annehmen und bekam selten Druck. Er beraubte den Comebacker jedoch auch seiner größten Stärke. Aus der Dreierkette im Aufbau heraus konnte Goretzka kaum Torgefahr entfachen. Zu weit war der Weg in den Strafraum.

Goretzka profitiert von Schlotterbeck

Folglich änderte der Bundestrainer Goretzkas Positionierung in der zweiten Halbzeit. Nagelsmann begründete den Wechsel Schlotterbeck für Raum nicht etwa mit Raums schwacher Leistung im ersten Durchgang, sondern damit, dass Goretzka fortan die Freiheit haben sollte, in den Strafraum zu gehen. "Wir wollten Leon weiter vorne haben. Dafür mussten wir mit "Schlotti" einen Halbverteidiger einwechseln, weil wir die Dreierkette nicht mit einem Sechser bilden. Sonst bekommen wir Leon nicht auf die Zehn. Das war der Grund, warum David rausmusste", so der Bundestrainer nach dem Spiel am ARD-Mikro.

Schlotterbeck interpretierte die Linksverteidigerposition anders als Raum. Im Gegensatz zum Leipziger schaltete sich der Dortmunder deutlich seltener mit in den Angriff ein und blieb in der Regel auf einer Höhe mit Tah und Rüdiger und bildete so die von Nagelsmann geforderte Dreierkette. Goretzka musste sich daher nicht mehr auf die tiefe Position fallen lassen. Die Breite auf der linke Seite wurde nun nicht mehr vom Linksverteidiger erzeugt, sondern von Leroy Sané, der sich deutlich weniger Richtung Zentrum orientierte und auf dem Flügel blieb.

Goretzkas neue Freiheit trug schnell Früchte, beim 1:1 von dem ebenfalls zur Pause eingewechselten Tim Kleindienst band der Bayern-Profi durch seinen Lauf in den Sechzehner einen italienischen Verteidiger, wodurch Kleindienst frei zum Kopfball kam. Kurz darauf hatte Goretzka selbst eine große Kopfballchance. Der Bayern-Profi war es schließlich auch, der den 2:1-Siegtreffer besorgte, obgleich das Tor nach einer Ecke und somit unabhängig von der taktischen Umstellung fiel.

Nagelsmann kürte Goretzka angesichts seiner starken Leistung nach der Partie zum "MVP" des Spiels. Es ist also davon auszugehen, dass der 30-Jährige auch zukünftig eine große Rolle in den Plänen des Bundestrainers spielen wird. Seine Stärken kommen am besten zum Tragen in der Formation mit Schlotterbeck als Linksverteidiger, das hat die zweite Hälfte im San Siro eindrücklich gezeigt. Für das Startelfmandat Schlotterbecks spricht indes nicht nur, dass andere Spieler durch ihn eher in die Rolle kommen, mit der sie der Mannschaft am meisten weiterhelfen.

Auch Schlotterbecks eigenes Stärkenprofil liefert einige Argumente. Kaum ein Verteidiger hat so ein gutes Aufbauspiel wie der 25-Jährige, das kann er auch von der linken Seite aus sehr gut einbringen. Zudem passt es sehr gut in Nagelsmanns Vorstellungen, der gerne viel mit einem flachen Aufbauspiel lösen möchte. Hinzu kommt, dass es der Mannschaft guttut, einen weiteren körperlich starken Spieler hinten drin zu haben, nun da Robert Andrich droht, seinen Stammplatz zu verlieren. In Mailand saß der Leverkusener zu Beginn nur auf der Bank und kam erst in der Nachspielzeit ins Spiel, nachdem er zuvor in fünf der letzten sechs Länderspiele in der Startelf gestanden hatte.


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