"Sportlich gut, politisch eine Katastrophe" - Die WM-Kolumne von Nadine Angerer
Von Daniel Holfelder
Nadine Angerer analysiert für 90min die Weltmeisterschaft in Katar. In ihrer vierten und letzten Kolumne wirft die Weltmeisterin von 2003 und 2007 einen Blick zurück auf das WM-Finale und beschäftigt sich mit der Frage, was die deutsche Mannschaft tun muss, um in Zukunft wieder erfolgreich zu sein.
Wahnsinn! Das war das beste Finale, das es je gegeben hat! Was die Argentinier und die Franzosen im Luhail Stadium geboten haben, hätte sich kein Hollywood-Regisseur besser ausdenken können. Dabei sah es anfangs überhaupt nicht danach aus, als könnte uns dieses Endspiel vom Hocker reißen.
Argentinien war über weite Strecken, vor allem in der ersten Halbzeit, so dominant, mental deutlich frischer und auch taktisch besser eingestellt, dass ich von einer klaren Sache ausging. Umso beeindruckender fand ich dann aber die Moral der Franzosen, die trotz ihrer Unterlegenheit nicht aufgegeben und im entscheidenden Moment dann doch zugeschlagen haben. Auch das macht eine Spitzenmannschaft aus.
Zwei Spieler sind natürlich hervorzuheben. Lionel Messi hat sein Land im Finale und über das gesamte Turnier hinweg zum Triumph geführt. Mit dem WM-Titel hat er seine grandiose Karriere gekrönt und steht jetzt auf einer Stufe mit Legenden wie Maradona und Pelé.
Genau dort könnte eines Tages auch Kylian Mbappé stehen. Dass der Franzose erst 24 Jahre alt ist, kann ich oft gar nicht glauben [wurde zweit Tage nach dem Finale 24, Anm. d. Red.]. Mbappé hat schon jetzt so viele Qualitäten und so viel Talent: Ich glaube, nach oben gibt es noch lange keine Grenzen für diesen Ausnahmekönner.
WM in Katar: Sportlich gut, politisch eine Katastrophe
Trotz des atemberaubenden Endspiels ist es nach wie vor falsch, die Weltmeisterschaft an Katar vergeben zu haben. In einem Land, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, sollte ein globales Sportereignis einfach nicht stattfinden.
Daran ändern auch zum Teil wirklich sehr ansehnliche Spiele und tolle Geschichten wie die des Überraschungsteams aus Marokko nichts. Insgesamt denke ich daher, dass man das Turnier vom sportlichen Niveau her als gut bewerten kann. Politisch hingegen war es eine Katastrophe.
DFB: "Mir sind viele Spiele zu aalglatt"
Eine Katastrophe war die WM auch für die deutsche Mannschaft. Gerade wenn man sich das Finale angesehen hat, wurde klar, dass es im Team von Hansi Flick an echten Typen mit Ecken und Kanten mangelt. Mir sind zu viele Spieler zu aalglatt und stromlinienförmig.
Damit in Zukunft andere Führungspersönlichkeiten auf dem Platz stehen und der Erfolg zurückkehrt, muss sich etwas in der Ausbildung ändern. Es geht darum, die vermeintlich schwierigen Spieler nicht sofort auszusortieren, sondern Freiräume zu lassen und Grenzüberschreitungen nicht zu rigoros zu ahnden.
Das bedeutet natürlich nicht, Egoisten und kleinen Diven den roten Teppich auszurollen. Der Teamgedanke muss immer im Vordergrund stehen. Aber dafür braucht es eben auch schwierige Typen, die Dinge hinterfragen und Konter geben, wenn sie es für angebracht halten.
Nadine Angerer (44) lief in ihrer Karriere 146 Mal für die deutsche Nationalmannschaft auf und gewann 2003 und 2007 den WM-Titel. Darüber hinaus wurde sie in ihrer Karriere fünf Mal Europameisterin und erhielt 2013 die Auszeichnung als Weltfußballerin und als Europas Fußballerin des Jahres. Heute arbeitet die zweimalige Deutsche Meisterin als Director of Goalkeeping bei den Portland Thorns in der US-amerikanischen National Women's Soccer League (NWSL).