Wiegman-Masterclass, Kerr allein reicht nicht - Erkenntnisse zu England vs Australien
Von Helene Altgelt
England hat Australien mit 3:1 besiegt. Die Gastgeberinnen sind damit nach einer fantastischen WM ausgeschieden, Sarina Wiegman und ihr Team treffen im Finale auf Spanien. Wiegman zeigte erneut ihr taktisches Können, ihre jungen Offensivspielerinnen glänzten. Die Erkenntnisse zu Englands Sieg.
Die Erkenntnisse zu Englands Sieg gegen Australien
1. Sarina Wiegman stellt ihr Team erneut ideal ein - die beste Trainerin der Welt?
Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss, das schien bisher Englands WM-Motto. In der Gruppenphase setzten sie sich souverän, aber glanzlos in einer eher leichten Gruppe durch. Das Achtelfinale gegen Nigeria geriet schon fast zur Endstation, aber in Unterzahl retteten sich die Lionesses doch noch in das Elfmeterschießen. Gegen Kolumbien spielte England überzeugender, aber der Biss in der Offensive fehlte immer noch.
Gegen Australien überzeugten die Engländerinnen zum ersten Mal auf ganzer Linie. Es war ein hochklassiges Halbfinale, mit viel Tempo und zwei starken Teams - im Gegensatz zu Spaniens Sieg gegen Schweden. Aber am Ende gewann England ohne Zweifel verdient.
Nur wenige Minuten lang wackelten die Lionesses im ganzen Spiel. Sie hatten die erste Halbzeit dominiert, Australien wurde nur durch lange Bälle auf Kerr gefährlich. Wiegmans Team dagegen kam über die starke linke Seite mit Rachel Daly zu mehreren Chancen, die letzte Präzision fehlte aber noch, bis sie sich durch Ella Toone mit dem 1:0 belohnten.
Sam Kerrs Geniestreich zum Ausgleich brachte England aber zum Wackeln. Plötzlich hatte Australien Aufwind und kam zu mehreren guten Chancen, auch nach dem 1:2 - allen voran Sam Kerr mit ihrer Riesenchance nach einer Ecke.
England behielt die Nerven und nutzte die großen Chancen. Das Zusammenspiel von Hemp und Russo war stark, und England spielte viel klarer und direkter als noch gegen Nigeria. Mit starken Pässen hebelten Greenwood und Co. die australische Defensive aus, die Offensivspielerinnen legten immer wieder überlegt zurück.
Vor allem defensiv war es ein starkes Spiel von den Lionesses. In der ersten Hälfte gingen sie Sam Kerr teils sehr hart an, und ohne sie wurde Australien kaum gefährlich. Wiegman setzte gerade zu Beginn auch darauf, Caitlin Foord links zu isolieren, Lucy Bronze stand dafür deutlich tiefer als sonst.
Das schien die Matildas etwas zu überraschen, die dadurch mehr über rechts spielten. Ellie Carpenter ist offensiv eine tolle Spielerin, aber wenn die Rechtsverteidigerin ihre Position verließ, ergaben sich Räume für England.
Wiegman hat jetzt bei vier EMs und WMs mit zwei unterschiedlichen Teams das Finale erreicht. Sie hat dafür technisch beschlagene Spielerinnen zur Verfügung gestellt bekommen, aber ein Selbstläufer waren ihre Erfolge weder mit England noch mit den Niederlanden. Wiegman mag manchmal bei Umstellungen innerhalb des Spiels etwas zögerlich sein, aber niemand stellt sein Team besser auf die Gegnerinnen ein als die Niederländerin.
2. Englands junge Offensive mit reifer Leistung - Umbruch gelungen
Die EM würde Lauren Hemps großes Turnier sein, das schien im letzten Sommer fast sicher. Hemp hatte gerade eine fantastische Saison bei Manchester City hinter sich, hatte Verteidigerinnen links und rechts ausgetanzt und einige Traumtore geschossen.
Bei der EM dominierte dann aber Beth Mead auf dem rechten Flügel die Schlagzeilen. Hemp spielte nicht schlecht, aber eher unauffällig. Alessia Russo und Ella Toone waren wichtige Joker, aber doch in der zweiten Reihe. Ein Jahr später sind sie beide Stammspielerinnen. Russo und Toone haben davon profitiert, dass Ellen White nach der EM ihre Karriere beendet hat und Fran Kirby wegen gesundheitlicher Probleme nicht dabei sein kann.
Aber sie haben ihre Vorgängerinnen beeindruckend ersetzt. Das 3:1 gegen Australien war von allen Offensivspielerinnen eine beeindruckend reife Leistung. Toone war im Spiel noch am unauffälligsten, erzielte aber wunderschön das 1:0. Russo und Hemp kombinierten, wie sie wollten.
Die drei gehören zu einer starken Generation von England - auch Georgia Stanway (24), Jess Carter (25) oder Chloe Kelly (25) sind in einem ähnlichen Alter. Alle haben noch einige Jahre vor sich und haben in diesem Halbfinale schon sehr souverän gespielt. Wie konstant sie diese Leistungen halten, bleibt noch abzuwarten. Aber diese Offensive ist schon ein Ausrufezeichen - und im Finale kommt noch Lauren James dazu.
3. Kerr-Effekt reicht nicht aus
Erst im Halbfinale stand sie zum allerersten Mal bei dieser WM in der australischen Startelf. Lange musste Star-Spielerin Sam Kerr auf diesen Moment warten, war sie doch über die vorherigen Wochen durch eine Wadenverletzung gebremst worden. Dadurch verpasste die Chelsea-Stürmerin alle drei Gruppenspiele und kam erst im Achtelfinale gegen Dänemark zu ihrem ersten Einsatz.
Gerade auf ihr lag der enorme Druck einer ganzen Nation, denn spätestens seit dem Turnier in diesem Jahr ist ihr Name in aller Munde. Über weite Strecken sah es gegen die starke englische Abwehr nicht so aus, als könnte sie ihre Stärken erwartungsgemäß abrufen. Zwar begann sie stark, doch dann tauchte sie häufig über mehrere Minuten lang ab und kam kaum zu einem Ballkontakt.
Dies sollte sich jedoch in der zweiten Halbzeit ändern. Es brauchte nur einen langen Pass in die Tiefe, den Kerr dankend zum Laufduell gegen ihre Chelsea-Teamkollegin Millie Bright annahm. Doch anstatt den erwartbaren Querpass zur mitgelaufenen Caitlin Foord zu spielen, entschied sich die Stürmerin für die Kerr-Variante und packte einen mächtigen Schuss aus etwa 25 Meter aus, mit dem sie die englische Torhüterin Mary Earps das einzige Mal in diesem Spiel überwinden konnte.
Denn das ist Sam Kerr: Sie kann während einer Partie für 89 Minuten abtauchen und unauffällig spielen, doch dann benötigt sie nur eine Aktion, um ihre ganze Klasse zu zeigen und – im besten Fall – auch Spiele zu entscheiden. Letzteres gelang ihr gegen England dann doch nicht ganz, zu stark erwies sich der Gegner für Kerr und die Matildas.
Die Möglichkeit zum erneuten Ausgleichstreffer für die 29-Jährige war da. In der 85. Spielminute landete das Spielgerät nach einer Ecke direkt bei Kerr, die den Versuch aus kurzer Distanz jedoch am Tor vorbeijagte. Auf der einen Seite erfreulich, dass die Stürmerin ihren WM-Auftritt mit einem wunderschönen Tor besiegeln konnte; weniger erfreulich, dass nach dem Halbfinale für sie und ihr Team Endstation ist.
4. England bremst Australiens Angriffsblock aus
Einer der Hauptgründe, warum Australien bis kurz vor der Schlussphase nicht zu den ganz großen Torchancen gekommen ist, war die Kompaktheit in der englischen Abwehr. Normalerweise zeichnen sich die Matildas gerade dadurch aus, mit schnellem Umschalten über die äußeren Mittelfeldspielerinnen gefährlich in die gegnerische Hälfte einzuziehen.
Caitlin Foord und Hayley Raso hatten im bisherigen Turnierverlauf bereits unzählige Male aufgezeigt, wie einfach ein Spielzug über sie laufen kann. Gepaart mit den oft mitgelaufenen Außenverteidigerinnen Steph Catley und Ellie Carpenter war man entweder direkt in den Strafraum eingelaufen oder aber suchte den Weg über hohe Hereingaben Richtung Elfmeterpunkt.
Das Problem war nur, dass es gegen England nicht so einfach werden sollte. Durch die von Sarina Wiegman gewählte Ausrichtung mit einer Dreierkette waren im Zentrum immer genug Verteidigerinnen, um den australischen Angriff zu stoppen. Und auch über außen absolvierten Lucy Bronze und Rachel Daly eine enorme Laufleistung, um sowohl defensiv zu verteidigen als auch offensiv immer wieder mitzugehen.
Die beiden ließen den Australierinnen kaum Platz und Räume, um hinter die Abwehrkette zu gelangen. Zudem kamen die hohen Hereingaben meist viel zu unpräzise in den Strafraum, sodass dies die Lionesses kaum vor Probleme stellte.
Nur über Standards kamen die Matildas zunächst zu ihren Torchancen. Erst gegen Ende, als England einige Male etwas unsortiert in der Abwehr stand, kamen noch einmal hochkarätige Gelegenheit zustande, der erfolgreiche Abschluss blieb jedoch – abgesehen von Kerrs Schuss – aus.
5. Trotz Ausscheiden: Es war eine fantastische WM für die Matildas
Der große Traum vom WM-Finale auf heimischen Boden ist für die Matildas zwar geplatzt, doch in gewisser Weise war für sie auch der Weg über das ganze Turnier hinweg das Ziel. Als Zuschauer hat man mitbekommen, wie die Mannschaft von Tony Gustavsson von der Gruppenphase bis hin zum Halbfinale zusammengewachsen ist und die gemeinsamen Stärken entdeckt hat. Die Verletzung von Sam Kerr war in dem Zusammenhang fast Glück im Unglück, da die restlichen Spielerinnen dadurch nach neuen Lösungen im Angriff suchen mussten und selbst individuell auf der großen Bühne glänzen konnten.
Durch diese Transformation gepaart mit der spürbaren Leidenschaft jeder einzelnen Akteurin sowie des Trainers konnten die Fans im ganzen Land erfolgreich mitgerissen werden. Ein jedes Mal, wenn die Matildas den Platz vor einer Partie betraten, brandete tosender Jubel auf. Zudem waren unzählige Plakate und Werbetafeln mit den Spielerinnen in den Städten ausgestellt, jeder musste von der Mission der australischen Nationalmannschaft erfahren.
Selbst wenn es nicht der Titel geworden ist, so haben die Matildas doch tausende von Menschen begeistert und jetzt schon unzählige junge Mädchen und Jungs dazu bewegt, mit dem Fußballspielen zu beginnen. In einem Land, das so sportbegeistert ist, aber bisher ein nicht allzu großes Augenmerk auf den Fußball gelegt hat, kommt das einer sportlichen Revolution gleich. Was die Mannschaft um Sam Kerr in Australien bewegt hat, soll einen bleibenden Effekt haben – nicht nur für dem Frauenfußball, sondern auch für Frauen und Mädchen im Sport.
Unter den Matildas haben sich zahlreiche Vorbilder herausgebildet: ob eine Katrina Gorry, die zwei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter trotzdem noch auf internationalem Top-Niveau spielen kann, oder etwa eine Mary Fowler, die erst mit 20 Jahren zum Symbol der aufstrebenden jungen Generation der Matildas geworden ist.
Der Frauenfußball in Australien hat durch die WM im eigenen Land und die Leistung der Matildas nicht nur ein Gesicht erhalten, sondern dieses auch voller Stolz der ganzen Welt präsentiert.