Weg mit dem VAR! Gebt uns unseren Fußball zurück
Von Oliver Helbig
Eigentlich sollte er den Fußball fairer und damit besser machen, doch am Ende bleibt vor allem aus Sicht des Fußballfans ein fader Beigeschmack. Der Video Assistant Referee, kurz VAR, sorgt in der Bundesliga und darüber hinaus fast wöchentlich für Diskussionsstoff. Dabei sollten genau diese Diskussionen mit der Einführung des VAR eigentlich verhindert oder zumindest minimiert werden. Lange Zeit stand ich dieser Neuerung aufgeschlossen gegenüber, mittlerweile nervt es mich fast nur noch!
Früher, also vor dem VAR, hat man sich über vermeintliche Fehlentscheidungen geärgert und sie dann einfach hinnehmen müssen. Besonders ärgerlich war es natürlich, wenn die Fehlentscheidung zu Ungunsten der eigenen Mannschaft oder zumindest einer Mannschaft ausfiel, der man sich in diesem Fall verbunden fühlte. Vor allem die Champions-League-Duelle gegen Real Madrid, gegen die man in strittigen 50:50-Situationen gefühlt allzu oft den Kürzeren zog, weil der Schiedsrichter zugunsten der Königlichen entschied, sind hier in schlechter Erinnerung geblieben und hatten große Hoffnung in den VAR geweckt. So auch als die Bayern gegen die Madrilenen ausschieden und beispielsweise Arturo Vidal unberechtigt vom Platz flog. "Mit dem Videobeweis hätten die Bayern die letzten zwei Jahre die Champions League gewonnen", sagte der Chilene einst selbst in einem Interview mit der Mundo Deportivo über das damalige Fehlen des VAR.
Unvergessen auch klare Abseitsstellungen von Madrider Spielern, die nicht geahndet wurden. Die Hoffnung war nicht nur bei Spielern und Vereinen groß, dass gerade die Einführung dieses technischen Hilfsmittels Fehlentscheidungen ausschließen und hitzige Debatten verhindern würde, doch das Gegenteil ist der Fall. Die Diskussionen sind gefühlt sogar größer geworden, die Emotionen auf den Rängen während des Spiels aber kleiner. Als Fan muss man gefühlt bei jedem Tor abwarten, ob es nicht doch noch durch eine erneute Witz-Entscheidung zurückgenommen wird.
Mein Problem ist nicht, dass es im Fußball Fehlentscheidungen gibt. Das gehört dazu. Genauso wie die Fehler, die die Spieler auf dem Platz machen oder die Trainer bei der Aufstellung und den Auswechslungen. Das gehört zum Spiel und war schon immer Teil davon. Jeder musste damit leben und umgehen können. Oft wurde es dem Fußballgott in die Schuhe geschoben, der halt einfach nicht wollte, dass ein Spiel so oder so ausgeht. Auch die Emotionen für Fans waren ohne VAR intensiver, weil man ohne ihn eine unmittelbare und direkte Entscheidung des Schiedsrichters auf dem Papier stehen hatte, ohne dass sie im Nachhinein noch fünfmal durchgestrichen oder mit Tipp-Ex bis zur Unkenntlichkeit überschrieben und ausgebessert wurde. Das musste man akzeptieren und das konnte man ohne den VAR auch ehrlich gesagt viel einfacher. Zumindest nach meinem persönlichen Empfinden.
Mein großes Problem mit dem VAR ist, dass trotz dieser umfassenden technischen Unterstützung, trotz vieler Blickwinkel, Zeitlupen und Experten, die sich die Situationen wieder und wieder anschauen, am Ende trotzdem oft falsch entschieden wird. Und dann muss ich sagen: Dann lasst doch den Käse sein und akzeptiert die Menschlichkeit des Spiels. Gesteht einem Schiedsrichter einen Fehler im laufenden Spiel zu. Dass das passieren kann, ist bei all der Hektik, der Schnelligkeit des Spiels und der oft unübersichtlichen Spielsituation verständlicher, als wenn mit Hilfe des VAR nach minutenlangem Warten dann doch eine Fehlentscheidung getroffen wird. Dann wird auch der Schiedsrichter nur noch mehr an den Pranger gestellt.
Jüngstes Beispiel bei Dänemark vs. Schweiz
Auch beim gestrigen (5. September 2024) Länderspiel der Nations League zwischen Dänemark und der Schweiz habe ich aus meiner Sicht zum Beispiel einfach nicht verstanden, wie Bundesliga-Schiedsrichter Daniel Siebert den Schweizer Nationalspieler Nico Elvedi nach dem Einsatz des VAR vom Platz stellen konnte.
Die Live-Bilder im Fernsehen sahen zunächst eindeutig aus. Die Situation: Elvedi befand sich im Laufduell mit dem Dänen Kasper Dolberg in Richtung des eigenen Tores und Schlussmann Gregor Kobel. Auf Höhe des Sechzehnmeterraums kam es plötzlich zum Kontakt und alles sah danach aus, als hätte der Innenverteidiger von Borussia Mönchengladbach den Dänen im Sechzehner zu Fall gebracht. Die Entscheidung: Elfmeter und Gelb für Elvedi. In dieser Wahrnehmung erstmal korrekt, da keine Doppelbestrafung mehr existiert. Elvedi wurde also trotz der anscheinenden Notbremse durch das Verursachen des Elfmeters nicht vom Platz gestellt. Dann aber die Wiederholung im TV.
Die verlangsamten TV-Bilder zeigten, dass sich das vermeintliche Foul außerhalb des Strafraums ereignete und Elvedi somit jetzt ohne Elfmeter und nur mit einem Freistoß für die Dänen als letzter Mann des Feldes verwiesen worden wäre, was nach minutenlanger Intervention des VAR schließlich auch so geschah. Für die Bewertung der Szene offenbar die einzige Grundlage: Foul innerhalb oder außerhalb?
Für jeden, der schon einmal selbst Fußball gespielt hat, war aber auch klar erkennbar, dass Elvedi den Ball im Zweikampf gut abschirmte, sich sauber zwischen Gegner und Ball schob und sich bereits wieder entgegen der zuvor getätigten Laufrichtung positionieren wollte, um die Situation aufzulösen. Dolberg zog Elvedi dabei allerdings am Arm nach hinten und brachte den Gladbacher so zu Fall. Dieser stürzte aufgrund der hohen Dynamik der Aktion nach hinten um und fiel dem dänischen Stürmer in die Hacken. Dolberg kam so nun ebenfalls zu Fall und reklamierte anschließend ein Foulspiel des Schweizers.
In den Betrachtungen des VAR und auch von Schiedsrichter Siebert wurde dies aber scheinbar nicht berücksichtigt, da die Entscheidung abschließend wie bereits erwähnt mit Freistoß für Dänemark und Rot für Elvedi bewertet wurde. Meiner Meinung nach hätte es hier eher Freistoß für die Schweiz geben müssen, da es sich nach meiner Ansicht um ein klares Foul von Dolberg an Elvedi handelte. So musste die Schweiz nach 50 Minuten zu zehnt weiterspielen und verlor schlussendlich in Unterzahl mit 0:2.
VAR-Fehlentscheidungen verärgern deutlich mehr als normale Schiri-Fehler
Leider ist mein Beispiel aus dem Länderspiel zwischen Dänemark und der Schweiz kein Einzelfall. Auch in der Bundesliga häufen sich solche Entscheidungen, wie zuletzt beim Spiel FC Bayern München gegen SC Freiburg, als eine VAR-Entscheidung ebenfalls für große Diskussionen und viel Frust bei den Freiburgern sorgte. Oder schon beim Bundesligaauftakt zwischen Borussia Mönchengladbach und Rekordmeister Bayer 04 Leverkusen, als ein VAR-Einsatz als ein vermeintliches Foulspiel von Kleindienst an Hincapie den Gladbacher Anschlusstreffer vor der Halbzeit verhinderte und die Fohlen auf die Palme brachte.
Natürlich könnte man jetzt noch eine lange Liste aufstellen, aber jeder, der sich regelmäßig mit Fußball und insbesondere mit der Bundesliga beschäftigt, weiß, dass der VAR nach dem Empfinden eingefleischter Fußballfans eher zu einer Belastung als zu einer Entlastung geworden ist, dem Fußball oft die Emotionen nimmt und offensichtlich auch nicht wirklich immer zu mehr Gerechtigkeit beigetragen hat. Die Diskussionen sind im Vergleich zu früher noch heftiger geworden, weil man heute davon ausgeht, dass die entscheidenden Schiedsrichter auch gerade durch die Möglichkeit, eine Situation mehrfach und aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können, in der Lage sein müssten, eine Aktion regelkonform und fehlerfrei zu lösen. Dem ist aber nicht so. Oftmals äußern sich Schiedsrichter im Nachhinein, dass die Situation trotz VAR falsch entschieden wurde und sie die Entscheidung bedauern oder sie sagen manchmal gar nichts mehr, um nicht noch mehr zur Zielscheibe von aufgebrachten Fans und Spielern zu werden.
Warum tut man das den Schiedsrichtern an? Man nimmt ihnen die Souveränität auf dem Platz, man greift in völlig sinnfreie Situationen ein, man bringt die Schiedsrichter auf dem Platz dazu, ihre eigentlich richtige Entscheidung noch einmal zu überdenken (und verunsichert sie damit), was dann auch oft passiert, und am Ende werden diese Schiedsrichter nach dem Spiel auch noch mit dem Mist, den der VAR verzapft hat, allein gelassen. Und mal ganz nebenbei: Sollte der VAR nicht eigentlich auch nur in Fällen offensichtlicher Fehlentscheidungen zur Anwendung kommen? Also beispielsweise bei ganz klarem Abseits oder offensichtlich absichtlichem Handspiel?
Schafft das Ding wieder ab!
Der VAR greift viel zu oft da ein, wo man ihn eigentlich nicht haben will. Wenn ich sehe, wie oft Abseitslinien gezogen werden und dann der Fußnagel des einen Spielers über die Abseitsstellung des anderen Spielers entscheidet, ob das Tor jetzt zählt oder nicht, dann fasse ich mir an den Kopf! Früher hieß es "im Zweifel für den Angreifer" und damit konnte ich sehr gut leben. Da bin ich sicher auch nicht der Einzige.
Von der Handspielregel will ich eigentlich gar nicht erst anfangen. Anscheinend gibt es ja keine klare Definition mehr, oder sie ist zumindest so kompliziert geworden, dass sich jetzt niemand mehr damit auskennt. Wie springt man zum Luftzweikampf hoch, ohne die Arme zu benutzen? Wohin mit den Händen beim Laufduell? Mit den Armen auf dem Rücken zu laufen, kann nicht die Lösung sein. Wie kann man einen Spieler mit Elfmeter bestrafen, der mit dem Rücken zum Schuss steht, den Ball in diesem Moment gar nicht sieht und dann von hinten am Ellbogen angeschossen wird? Das ist doch lächerlich! Mittlerweile ist es ja schon taktisches Mittel, in Ballbesitz im gegnerischen Strafraum und ohne Aussicht auf eine vernünftige Lösung den Ball einfach in Richtung eines Gegenspielers zu schießen, in der Hoffnung, dass dieser nach dem Schuhebinden in der Kabine vergessen hat, die Arme in den Spind zu legen und ohne sie aufzulaufen. Definiton: "klare Absicht erkennbar ist gleich Elfmeter". Es könnte doch so einfach sein, oder sehe ich das falsch?
Ich bin jetzt wirklich an dem Punkt, wo ich sage: Schafft das Ding wieder ab! Hat der VAR den Fußball schlechter gemacht? Wahrscheinlich nicht unbedingt, aber er ist auch nicht auf ganzer Linie gerechter geworden. Dafür hat man aber die großen Emotionen rausgenommen, weil man bei jedem Tor erst mal guckt, ob sich der Schiedsrichter ans Ohr fasst und auf die Info vom VAR wartet, ob etwas sein könnte.
Hat der VAR den Fußball um einen wesentlichen Anteil besser gemacht? Ich sage Nein. Ist er deshalb unverzichtbar geworden und würde der Fußball schlechter, wenn er wieder abgeschafft würde? Ich sage Nein! Dann gebt uns wenigstens die großen Emotionen zurück, den Schiedsrichtern auf dem Platz die Verantwortung und dem Spiel seinen jahrzehntelangen Lauf - mit all seinen Gerechtigkeiten und Ungerechtigkeiten.