Vorbild Italien: Was dem DFB-Team fehlt und wie man als Geheimfavorit auftreten muss
Von Oscar Nolte
Erst am Dienstag startet die DFB-Elf mit dem Kracher gegen Frankreich in die Europameisterschaft. Das Auftaktspiel am Freitagabend entschied Italien gegen die Türkei deutlich mit 3:0. Am Auftritt der Squadra Azzurra kann sich die Mannschaft um Bundestrainer Joachim Löw ein Vorbild nehmen. Die Italiener zeigten aber vor allem auf, was Deutschland aktuell noch fehlt.
Es gibt gewisse Parallelen, die sich zwischen der italienischen und der deutschen Nationalmannschaft ziehen lassen. 2018 ging jeweils viel in die Brüche: Deutschland spielte eine katastrophale Weltmeisterschaft in Russland und überstand gegen Mexiko, Südkorea und Schweden nicht einmal die Gruppenphase. Italien qualifizierte sich nicht einmal für das Turnier - erstmals seit 60 Jahren!
Die beiden Verbände leiteten daraufhin einen Umbruch ein, wählten dabei jedoch andere Ansätze. Italien machte einen klaren Schnitt und berief in Roberto Mancini einen neuen Nationaltrainer, der künftig viele junge und bis dahin übergangene Spieler einsetzte und testete. Der DFB hingegen hielt an Joachim Löw fest; der Weltmeister-Trainer von 2014 versuchte es ebenfalls mit neuen Ansätzen, von denen aber wenige Wirkung zeigten. Nun wurden "Die Mannschaft" und die Squadra Azzurra in die wohl schwierigsten Turnier-Gruppen gelost und stehen vor der ersten Feuerprobe seit dem Krisen-Jahr 2018.
Deutschland und Italien auf Augenhöhe? Die Unterschiede überwiegen
Noch offenkundiger als die Paralellen, sind jedoch die Unterschiede zwischen den beiden Mannschaften. Während Löw probierte und probierte und seit der verpatzten WM nun doch kein wirkliches Erfolgsrezept fand, blühte Italien wieder auf. Seit 28 Spielen ist der Weltmeister von 2006 ungeschlagen (!), zudem seit neun Spielen ohne Gegentor. Beide Bundestrainer, Löw und Mancini, können auf eine Auswahl an Weltstars zurückgreifen, der Kader der Italiener wirkt aber homogener und ausgeglichener zusammengestellt. Am Freitag gegen die Türkei trat die Squadra Azzurra als geschlossene Einheit auf, die ihren Status als Geheimfavoriten untermauerte. So einen Auftakt erhofft sich auch die DFB-Elf.
Nun trifft "Jogis 11" aber auf den Weltmeister Frankreich - und damit auf den Top-Favoriten des Turniers. Ein guter Auftakt, das kennzeichnet die Mannschaften Löws, ist zwingend notwendig, um sofort die zuletzt bitter vermisste Erfolgswelle einzuleiten. Die Dynamik, die in der italienischen Auswahl vorherrscht, braucht Deutschland unbedingt, um überhaupt Chancen in dieser Gruppe und in diesem Turnier zu haben. Wenn in der deutschen Mannschaft die Rädchen ineinandergreifen und sich eine Einheit bilden, ist ganz viel möglich - siehe die Weltmeisterschaft vor sechs Jahren.
Bislang ist die DFB-Elf davon aber noch entfernt. Taktisch wie auch spielerisch ist noch Sand im Getriebe. Auch sozialdynamisch muss sich die Mannschaft finden, da Spieler wie Mats Hummels, Kevin Volland und Thomas Müller nach einiger Abstinenz zurückkehrten und mit Jamal Musiala, Christian Günter, Jonas Hofmann oder Florian Neuhaus einige Newcomer im Aufgebot stehen. Einen klaren Kern, über Monate oder Jahre zusammengewachsen, gibt es nicht wirklich. Das Gemisch aus Stars, jungen Spielern, Anführern und Rollenspielern - es passt noch nicht so wirklich.
Italiens Trumpf: Die Außenverteidiger
Und auch taktisch-personell hat Italien der deutschen Mannschaft etwas voraus: Löw wie auch Mancini spielen mit einer Dreierkette in der Abwehr. Der deutschen Mannschaft fehlt es aber an disziplinierten Schienenspielern, die der Schlüssel in diesem System sind. Robin Gosens und Christian Günter haben auf Links das Potenzial, sich bisher aber noch nicht bewährt. Auf rechts hingegen muss vermutlich Joshua Kimmich aushelfen, weil sich kein anderer Spieler für die Position anbietet (Löw versäumte es, Wolfsburgs Shootingstar Ridle Baku zu nominieren). Die Italiener hingegen sind auf diesen Positionen hervorragend besetzt: Am Freitag brillierte vor allem Leonardo Spinazzola auf der linken Außenbahn, auf rechts spielte zunächst mit Alessandro Florenzi ebenfalls ein Top-Mann, der im Spielverlauf für Giovanni Di Lorenzo eingewechselt wurde. Allesamt Spieler, die im weltweiten Vergleich auf dieser speziellen Position zur Elite gehören. Davon kann man in Deutschland nur träumen.
Es sind die Parallelen und es sind die Unterschiede zwischen der deutschen und der italienischen Auswahl, die vor dem Auftakt der DFB-Elf in diesem Turnier die Ambivalenz aus Pessimismus und Optimismus aufzeigen. Die Squadra Azzurra hat am Freitag gezeigt, was es braucht, um als Geheimfavorit eine Rolle in diesem Turnier zu spielen. Diese Entwicklung braucht auch Deutschland. Das Spiel gegen Frankreich wird zur Feuerprobe: was ist drin für "Die Mannschaft" bei diesem, Löws letztem Turnier.