Verkehrte Welt in Berlin: Union ist trotz der Derby-Niederlage da, wo die Hertha gerne wäre
Von Florian Bajus
Hertha BSC hat das Stadt-Derby gegen Union am Freitagabend mit 3:1 gewonnen, und doch ist es der Rivale aus Köpenick, der besser in die Saison gestartet ist. Die von Urs Fischer angetriebene Weiterentwicklung der Mannschaft hat von Beginn an Früchte getragen, während sich die Hertha nach einem komplizierten Jahr erst zusammenfinden muss.
Die eine Berliner Mannschaft liegt vor den Bundesligaspielen am Samstag und Sonntag auf dem sechsten Tabellenplatz, die andere muss sich mit Rang elf begnügen. Prinzipiell klingt diese Momentaufnahme für die beiden Hauptstadt-Klubs nicht schlecht - doch es ist die Reihenfolge, die den Unterschied ausmacht.
Während Union derzeit elf Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz hat und sich tabellarisch mit Mannschaften wie dem VfL Wolfsburg, Borussia Mönchengladbach und sogar Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen misst, befindet sich die ambitionierte Hertha im Niemandsland. Fünf Niederlagen hat die Mannschaft von Bruno Labbadia bereits einstecken müssen, der Sieg über den Stadtrivalen war erst der dritte in dieser noch jungen Saison. Es ist eine verkehrte Welt in Berlin, wo sich die eine Mannschaft noch finden muss und die andere schon auf einem guten Weg ist.
Hertha BSC befindet sich in einem langwierigen Prozess
Der Findungs- und Entwicklungsprozess spielt bei der Hertha eine ganz entscheidende Rolle. Das letzte Jahr verlief überhaupt nicht nach den Wunschvorstellungen der Klub-Bosse. Bruno Labbadia mit einbezogen brauchte es insgesamt vier Trainer, um den Klassenerhalt zu erreichen - dabei wurde offensiv der Europapokal anvisiert und über das anvisierte Projekt "Big City Club" gesprochen. Das macht die Arbeit für den eher bodenständigen und auf Entwicklung bedachten Labbadia nicht leichter - denn er hat in puncto Spielweise und Kaderplanung andere Vorstellungen als seine Vorgänger Ante Covic, Jürgen Klinsmann und Alexander Nouri.
Die Januar-Neuzugänge Santiago Ascacibar und Krzysztof Piatek gehören unter seiner Leitung nicht zum Stammpersonal, auch der für den Sommer verpflichtete Lucas Tousart muss sich bei der Hertha noch zurechtfinden. Dafür spielen Matheus Cunha sowie die unter Labbadia verpflichteten Alexander Schwolow, Omar Alderete und Matteo Guendouzi regelmäßig, während der 15 Millionen Euro teure Jhon Cordoba derzeit verletzungsbedingt fehlt und Deyovaisio Zeefuik chancenlos gegen Peter Pekarik ist.
Wichtig war in der Vergangenheit auch die Führungsachse um Per Skjelbred, Vedad Ibisevic und Salomon Kalou, die nach der abgelaufenen Saison weggebrochen ist. Es müssen sich neue Führungsspieler herauskristallisieren, wie möglicherweise Dedryck Boyata, Vladimir Darida oder Pekarik. Dieser Prozess beansprucht aber ebenso wie die Entwicklung einer Stammelf und einer ihr passenden Spielidee Zeit.
Diese muss Labbadia gewährt werden, wenn die Alte Dame mittelfristig wieder einen einstelligen Tabellenplatz anpeilt. Das wurde am Freitagabend noch einmal deutlich. In den ersten 45 Minuten war Hertha bei Ballbesitz ideenlos, Union konnte die Angriffe über die linke Offensivseite auch in Unterzahl ohne größere Schwierigkeiten im Keim ersticken. Mit Cunha und Dodi Lukebakio im Doppelsturm fehlte es an Tiefe, erst nach den Einwechslungen von Javairo Dilrosun und Piatek wurden die Hausherren gefährlicher.
Union Berlin: Die wohl positivste Überraschung des Saisonstarts
Union wäre derweil falsch beraten, sich nach dieser Niederlage vom eingeschlagenen Weg abbringen zu lassen. Der Schritt von langen Bällen auf den Wandspieler hin zu einem kreativen und gepflegten Ballbesitzspiel war die richtige Entscheidung. Laut fbref.com erzielen die Köpenicker derzeit 2,20 Tore pro Spiel, einen höheren Wert verzeichnen nur Borussia Dortmund (2,33) und der FC Bayern (3,44). Zum Vergleich: In der vergangenen Saison erzielte Union durchschnittlich nur 1,12 Tore pro Spiel.
Auch in der Torschussstatistik ist die Fischer-Elf im oberen Drittel dabei, mit 48 Torschüssen belegt sie den vierten Rang hinter Borussia Mönchengladbach (49), Dortmund (53) und Bayern (58). Der daraus resultierende Schnitt von 4,8 Torschüssen pro Spiel ist ebenfalls höher als der Wert aus der vergangenen Saison (3,91).
Unterschiedsspieler Kruse
Max Kruse spielt in dieser Wandlung eine Schlüsselrolle. Der Neuzugang hat bereits sechs Treffer und fünf Vorlagen auf seinem Konto, liegt damit in der Liste der Top-Scorer nur hinter Robert Lewandowski (16) und Erling Haaland (12). Im letzten Drittel kann Kruse dank kluger Laufwege und einer herausragenden Übersicht nicht nur selber Tore erzielen, sondern auch viele Chancen kreieren: Der 32-Jährige spielte bereits 18 Key Passes und initiierte 10 torkreierende Aktionen, womit er sich in dieser Kategorie den ersten Platz mit RB Leipzigs Dani Olmo teilt. In der Kategorie der torkreierenden Aktionen pro Spiel belegt er mit einem Wert von 1,42 indes den dritten Platz hinter Leroy Sané (1,50) und Olmo (1,67).
Gemeinsam mit den spielstarken Innenverteidigern Marvin Friedrich und Robin Knoche sowie Kruse, der bereits seit vielen Jahren auf extrem hohem Niveau spielt, hat Fischer eine Achse gefunden, die der Mannschaft mehr Kreativität und Torgefahr im Ballbesitz verleiht. Die neue Spielweise kann dabei helfen, den Verein langfristig in der Bundesliga zu etablieren - die Hertha wird sich dagegen zunächst nach unten orientieren müssen und den Entwicklungsprozess vorantreiben, um dann ähnliche Fortschritte machen zu können wie der Rivale.