"Wird ein Riesen-Brett dieses Jahr": Potsdams neuer Trainer Sebastian Middeke im Interview

Sebastian Middeke ist ab dieser Saison Trainer von Turbine Potsdam
Sebastian Middeke ist ab dieser Saison Trainer von Turbine Potsdam / Boris Streubel/GettyImages
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Zahlreiche Abgänge, darunter fast alle Stammspielerinnen: Turbine Potsdam steht diese Saison vor einem gewaltigen Umbruch. Sebastian Middeke ist der Trainer, der diesen bewältigen soll - der 38-Jährige folgt auf Sofian Chahed und will mit einem jungen Team die Klasse halten. 90min sprach mit ihm über seine Philosophie, Potsdams Zukunftsaussichten und nötige Reformen, um den Frauenfußball voranzubringen.


" Absolute Ehre für mich, hier die Fäden ziehen zu dürfen“

Middeke hat bisher zwei Stationen im Frauenbereich in der Trainer-Vita stehen: Sechs Jahre war er beim SV Meppen in verschiedenen Funktionen tätig, arbeitete als Co-Trainer und war dann für die Jugendteams und die zweite Mannschaft zuständig. 2021 war er zudem für vier Wochen bei der Spielvereinigung Berghofen, damals vom Zweitliga-Abstieg bedroht. 

Laut der Club-Webseite hatte Middeke auch Angebote von zwei weiteren Bundesliga-Vereinen vorliegen – warum also Potsdam? "Es war nach sechs Jahren in Meppen der nächste Step für mich, als das Angebot aus Potsdam kam", sagt Middeke. 

Aber nicht nur für seine Karriere hat er den Verein gewählt, sondern auch, weil er die Tradition und das Konzept schätzt: "Turbine Potsdam ist für mich einer der letzten reinen Frauenvereine, die noch übrig geblieben sind. Und deswegen war es eine absolute Ehre für mich, hier die Fäden ziehen zu dürfen."

Umbruch im Sommer - "Wird ein sehr, sehr schwieriges Jahr"

Middeke wird dieses Jahr mit vielen neuen Spielerinnen arbeiten, 14 sind zu anderen Vereinen gewechselt. Umso mehr schätzt er die Entscheidung seiner Spielerinnen, nächste Saison für Turbine aufzulaufen: "Das ist aus meiner Sicht eine großartige Sache und ich kann es nur jeder Spielerin ans Herz legen. Ich freue mich sehr, dass viele die Fahne jetzt hochhalten."

Auch sportlich wird der Umbruch Konsequenzen haben. Von einem erneuten vierten Platz, es wäre das vierte Mal in Folge, träumt in Potsdam derzeit kaum jemand. Stattdessen soll so schnell wie möglich der Klassenerhalt gesichert werden, um sich dann im Mittelfeld wiederzufinden. So ist auch Middeke bei der Einschätzung von Turbines Chancen dieses Jahr Realist: "Das wird ein Riesen-Brett für uns dieses Jahr. Neun Stammspielerinnen haben den Verein verlassen. Viele junge Spielerinnen sollten unter anderen Voraussetzungen herangeführt werden, werden jetzt aber ins kalte Wasser geworfen."

Von daher ist die Zielsetzung für diese Saison klar, langfristig will Turbine aber wieder weiter vorne mitspielen: "Wir wollen diesen Umbruch gut meistern, damit den Liga-Verbleib sichern und uns im Mittelfeld festigen. Es wird ein sehr, sehr schwieriges Jahr. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das schaffen. Und ich bin auch zuversichtlich, dass wir uns auch zukünftig gut aufstellen können und wieder angreifen."

Kurzfristig ist aber zuerst die Entwicklung der Spielerinnen einer der Schlüsselfaktoren. Middeke baut dabei auf einen guten Umgang mit den Spielerinnen: "Ich versuche, jede Spielerin und jeden Spieler da abzuholen, wo er steht. Auf die einzelnen Bedürfnisse einzugehen. Ich denke, wenn die zwischenmenschliche Komponente nicht stimmt, kann die Zusammenarbeit nicht funktionieren. Und mir ist es wichtig, sich etwas zu gönnten, sich für den anderen zu freuen, und dann können wir uns über Fußball unterhalten."

Middekes Philosophie: Auf Stärken aufbauen und effizient sein

Was braucht es, um diesen Liga-Verbleib souverän zu sichern und im sicheren Mittelfeld zu landen? Middeke nennt zunächst einmal das Quäntchen Glück, auch bei Verletzungen. Potsdam hatte in den letzten Jahren immer wieder schwere Verletzungen, auch bei wichtigen Spielerinnen, zu beklagen. Dieses Jahr sind sie aber "in einer Situation, wo es unabdingbar ist, dass das Verletzungspech an uns vorübergeht", so Middeke.

Das Augenmerk liegt dann auf dem Spielerischen, auch dort zeigt sich Middeke pragmatisch: Er will Potsdams Möglichkeiten ideal nutzen und das meiste aus ihren Fähigkeiten herausholen. "Jetzt geht es darum, auf unseren Stärken aufbauend taktische Aspekte weiter zu festigen. Wir wollen uns überlegen, was wir gut können und was weniger. Und dann das weiter zu fördern, was wir können."

Grundsätzlich mag Middeke einen "feinen Fußball. Ich mag es, wenn wir selbst das Heft in die Hand nehmen. Agieren anstatt zu reagieren als Grundsatz der Philosophie." Trotzdem geht es ihm am Ende um Effizienz: "Wir müssen uns nicht über schöne Spielereien unterhalten, die nachher nicht zielführend sind. Ein Gegner hat auch elf starke Spielerinnen auf der anderen Seite. Da muss man sich überlegen, wie man dennoch zum Erfolg kommt. Das ist vielleicht nicht immer der allerschönste Fußball, aber was bringt uns ein Schönwetter-Fußball, wenn wir am Ende nicht effektiv sind?"

Darüber hinaus soll Leidenschaft ein großer Trumpf werden: "Was uns dieses Jahr auszeichnen kann und soll, ist der absolute Wille, die Leidenschaft, sich für den Verein zu zerreißen. Zu erkennen, in welcher Situation wir uns befinden, sich der Verein befindet und daraus heraus leidenschaftlichen Fußball zu spielen."

Potsdams Zukunft: Sponsoren-Engagement unverzichtbar

Andere reine Frauenvereine wie der 1. FFC Frankfurt oder der FF USV Jena haben inzwischen mit Männerclubs fusioniert und heißen nun Eintracht oder Carl Zeiss. Mit Essen und Potsdam verbleiben nur noch zwei dieser Klubs in der Frauen-Bundesliga. Middeke betont, dass Potsdam einen starken Sponsoren-Pool hat, um zu ermöglichen, dass Turbine mit den Besten mithalten kann. Trotzdem hat der Verein nicht die gleichen Mittel wie die Frauenabteilungen von Klubs, die auch im Männerbereich stark sind. Für Middeke ist auch zukünftig besonders das Investment von Sponsoren ausschlaggebend, damit Turbine den Blick weiter nach oben richten kann: "Damit Potsdam in Zukunft den nächsten Step machen kann, kann man nur auf die Unterstützung der Sponsoren hoffen. Dass auch neue dazukommen, die bereit sind, diesen finanziellen Aufwand zu stemmen."

Mut macht es Middeke aber, dass Potsdam und der Frauenfußball generell für Sponsoren attraktiv sind: "Im Frauenbereich ist mit verhältnismäßig kleinen Mitteln viel möglich. Das ist aus meiner Sicht ein großer Anreiz für Sponsoren, die Spaß am Fußball haben und auch daran, den Frauenbereich nach der EM zu unterstützen."

Nötige Reformen im Frauenfußball: Änderungen an der Basis

In die EM werden große Hoffnungen gesetzt, der entstandene Hype soll ein Treiber für die Entwicklung der Liga sein. Middeke sieht aber einige grundsätzliche Faktoren als Voraussetzung dafür. Vergleiche mit Männermannschaften oder Mädchen, die im Jugendbereich bei den Jungen mitspielen, hält er aber nicht für die Lösung: "Wir sollten im Frauen- und Mädchenbereich unsere eigene Identität behalten. Ich bin kein Fan davon, dass Mädchen bei Jungenmannschaften spielen, um sich zu verbessern."

Stattdessen schlägt er vor, es genau andersrum anzugehen: "Man könnte den Spieß auch umdrehen: Indem Männer als Gastspieler am Training teilnehmen und Körperlichkeit und Schnelligkeit mitbringen. Damit könnte das gesamte Paket, was oft gewünscht wird, reingeholt werden. Ich halte das für eine bessere Option als zu sagen: 'Ich gebe den Frauenbereich auf, die turnen alle nur noch bei den Männern oder den Jungs rum.' Es kann nicht sein, dass zum Beispiel die U17 Bundesliga abgeschafft wird und alle bei den Jungen spielen. Das halte ich für absolut falsch."

Ein zweiter Punkt an der Basis: Der Stellenwert vom Frauenfußball generell. Symptomatisch findet Middeke dabei die Situation im Trainerbereich – für die erste Bundesliga der Frauen wird eine niedrigere Qualifikation benötigt als für die dritte der Männer. "Wer das als neutraler Beobachter weiß, hat schon ein bestimmtes Bild. Da könnte man überlegen, ob es eine Lizenzstufe gibt, die alles umfassen kann." Middeke schlägt vor, dass eine A-Lizenz reichen sollte, um in allen Ligen trainieren zu können – diese könne weiter ausgebaut werden, um den nötigen Standards zu entsprechen. Die Fußballlehrer-Ausbildung solle aber bestehen bleiben. Kurz: "Die Basis muss erstmal stehen, um die Euphorie mitzunehmen."


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