Strukturelle Probleme im Frauenfußball: Warum wir bei der WM nicht nur über die schönen Geschichten reden sollten
Von Helene Altgelt
Wenn es um den deutschen Gruppengegner Kolumbien bei dieser Frauen-WM geht, gibt es eine Geschichte, die gerne erzählt wird. Warum auch nicht, sie ist schließlich zu schön, um sie nicht zu erzählen. Eine Geschichte, "wie sie nur der Fußball schreibt", wie man so gerne sagt. Eine Wohlfühl-Geschichte, mit einer klaren Protagonistin im Mittelpunkt, und einem Happy End. "That's what it's all about!"
Die Geschichte ist die von Kolumbiens Supertalent Linda Caicedo: Caicedo wurde bereits früh eine große Karriere vorhergesagt, mit nur 14 Jahren gab sie ihr Debüt für das kolumbianische Nationalteam. Ein Jahr später folgte die Diagnose Eierstockkrebs. Die Zukunft von Caicedo stand in den Sternen, plötzlich ging es um viel mehr als Fußball.
Die 18-Jährige besiegte den Krebs nach einer Chemotherapie und entwickelte sich danach zu einer der besten Jugendspielerinnen der Welt. Caicedo brillierte bei der U17 und der U20-WM, schoss bei ihrem WM-Debüt gegen Südkorea prompt ein Tor. Dutzende Klubs klopften an, aber ihre Eltern wollten nicht, dass sie vor ihrem 18. Geburtstag nach Europa ging, und so wechselte sie erst vor Kurzem zu Real Madrid.
Bei vielen Teams liegt der Fokus auf einer einzigen Spielerin
Caicedos Geschichte ist außergewöhnlich, ihr Talent und ihre Reife trotz des jungen Alters beachtlich. Trotzdem ist es schade, dass der Fokus auf Kolumbiens Superstar andere Themen in den Hintergrund rücken lässt. Erstens ist Caicedo nicht die einzige Spielerin der Cafeteras - in der Offensive sind Rekordtorschützin Catalina Usme und Mayra Ramirez, die mit ihren Läufen in die Tiefe Raum für Caicedo kreiert, ebenfalls wichtige Spielerinnen.
Das Phänomen beschränkt sich natürlich nicht auf Kolumbien: Das Narrativ eines großen, alles überstrahlenden Superstars, fast immer eine Stürmerin, findet man bei sehr vielen Teams. In Deutschland wird viel mehr über Alexandra Popp gesprochen als über diejenigen, die sie mit Flanken füttern. In Australien prangt Sam Kerrs Gesicht überall, bei Brasilien dreht sich alles um Marta, obwohl sie selbst geschrieben hat, dass es bei dieser WM nicht um sie geht.
Natürlich sind das bemerkenswerte Spielerinnen, die nicht umsonst das Gesicht ihres Teams geworden sind, aber man macht es sich mit dem Fokus auf eine einzige Akteurin doch etwas leicht. Besonders schade ist das in Fällen wie dem von Kolumbien, wenn eine märchenhafte Geschichte wie die von Caicedo die Konflikte des Teams mit dem Verband überschattet.
Probleme mit den Verbänden betreffen viele Teams - aber in der Berichterstattung wenig präsent
Bei dieser WM müssen viele Teams trotz hoher Zuschauerzahlen und Millionen-Einnahmen der FIFA noch um Anerkennung, gerechte Bezahlung und faire Behandlung kämpfen. Der Ansatz, Fußball sei unpolitisch, wird hier ins Absurde geführt. Über die WM und ihre Protagonisten kann man nicht berichten, ohne die grassierenden Probleme zu erwähnen. Der Erfolg der WM sollte nicht nur an TV-Quoten gemessen werden, sondern auch daran, ob sich langfristig wirklich etwas an den strukturellen Problemen ändert.
Also: Ja, man kann und sollte die tollen Leistungen von Teams wie Kolumbien anerkennen und feiern. Für sie ist die WM schließlich auch eine Chance, sich auf der größten Bühne zu zeigen. Aber auch wenn Kolumbien das Achtelfinale erreichen sollte und Linda Caicedo ein Traumtor nach dem anderen erzielt, läuft noch lange nicht alles glatt. Die Probleme mit dem Verband werden detailliert in einem Artikel von Global Sports Matters beschrieben.
Die Probleme klar zu adressieren, ist genauso wichtig, wie über überragende Einzelspielerinnen oder Taktik zu sprechen. Allzu oft werden diese schwerwiegenden Probleme aber in der Berichterstattung ignoriert oder beschönigt. Statt von sexuellem Missbrauch ist dann von einer "vermeintlichen Sex-Affäre" die Rede, beliebt ist auch der Euphemismus der "Meinungsverschiedenheit" zwischen Spielerinnen und Trainer. Und wenn man einen Underdog wie Haiti für tolle Leistungen feiert, sollte dabei unbedingt klargestellt werden, dass diese Erfolge eher nicht dank, sondern trotz des Verbandes gefeiert werden konnten.
In verschiedenen Abstufungen hat mindestens ein Drittel aller WM-Teams massive Probleme mit dem Verband und seinen Akteuren erlebt, von fehlendem Respekt über ausbleibende Zahlungen bis hin zu sexualisierter Gewalt. Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, zeigt sich klar an der Regelmäßigkeit der Muster.
Fast könnte man einen How-to-be-a-shitty-federation-Guide erstellen, so sehr ähneln sich die Probleme, auch wenn die Gegebenheiten des jeweiligen Landes natürlich beachtet werden müssen. Und sie hängen eng miteinander zusammen, so eng, dass man oft nicht klar sagen kann, was die Wurzel ist.
Von ausbleibenden Zahlungen bis hin zur sexualisierten Gewalt - Probleme ähneln sich oft
Erstes Problem: Teufelskreis des Geldmangels. Egal ob im Jahr 1955 oder 2023, gerne wird von den Verbänden behauptet: Der Fußball der Frauen habe ja in den letzten Jahren kaum Geld eingenommen, denn er sei physisch und naturgemäß dem Männerfußball unterlegen. Sprich, es gebe keinen Grund, mehr Geld zu investieren, denn an dieser Unterlegenheit würde das ja sowieso nichts ändern.
Das führt zu einem Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen ist: Wenig Geld führt zu schlechten Bedingungen und dazu, dass viele Spielerinnen den Fußball aufgeben, was wiederum zur Folge hat, dass die Liga unattraktiver wird, keine Sponsoren gewinnen kann und wenig Aufmerksamkeit entsteht. Und wenn die nationale Liga schwächelt, wird das gerne als Argument genommen, um den Fußball der Frauen wieder als unveränderlich unterlegen darzustellen.
Das wirkt sich auch auf das Nationalteam aus. Sie haben keine Forderungen zu stellen, heißt es oft, sondern sollten sich zufriedengeben mit dem, was es gibt. Oft wurde der organisierte Fußball der Frauen zwischenzeitlich vom Verband verboten oder auch komplett ignoriert. Dadurch wird den Spielerinnen des Nationalteams das Gefühl gegeben, sie müssten sich glücklich schätzen, überhaupt spielen zu dürfen.
Zweites Problem: Schlechte Bedingungen und ausbleibende Prämien. Die Bedingungen sind durch die fehlende Unterstützung oft katastrophal. Die Spielerinnen müssen in Bussen oder am Flughafen schlafen, Freundschaftsspiele werden nicht organisiert und Rechnungen nicht bezahlt. Nationalspielerin zu sein, ist ein Luxus, den viele Spielerinnen auch 2023 noch aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Prämien und Entschädigungen bleiben aus, wie im Falle von Kanada, oder werden viel zu spät gezahlt.
Drittes Problem: (Sexualisierter) Missbrauch. All das ist der perfekte Nährboden für Missbrauch: Spielerinnen, die wenige Rechte haben, auf den Verband angewiesen sind, der sie im besten Fall stiefmütterlich behandelt und im schlimmsten Fall aktiv die Täter schützt. Von Sambia über Argentinien und Haiti ist auch das ein wiederkehrendes Thema, egal ob die Gewalt von Trainern oder Verbands-Offiziellen ausgeht.
Viertes Problem: Seilschaften und Machtgefälle. Konsequenzen gibt es für die Täter in vielen Fällen nicht. Die Verbände drücken ein Auge zu oder schützen die Täter aktiv, weil diese oft gute Verbindungen zu der Chef-Etage haben. Den Spielerinnen wird nicht geglaubt, wenn sie denn überhaupt den Mut aufbringen, Vorwürfe ans Licht zu bringen. Sie sind schließlich ersetzbar und in einer vulnerablen Position, während die Täter geschützt werden und Macht haben. Macht über die Karrieren der Spielerinnen, über Plätze im Nationalteam, über Stipendien in anderen Ligen.
Vetternwirtschaft ist in vielen Verbänden ein großes Problem. Der Vater vom spanischen Trainer Jorge Vilda ist zum Beispiel ebenfalls eine wichtige Figur im Verband, und sein Sohn ist nicht nur Coach, sondern auch Direktor der Frauenteams und damit dafür verantwortlich, sich selbst zu kontrollieren.
Fünftes Problem: Ohnmacht der Spielerinnen und Mandats-Doppelungen. Sich über den Missbrauch zu äußern und Gehör zu finden, ist oft sehr schwer. Das liegt an den informellen Kumpelschaften in den Verbänden, aber auch außerhalb der Verbände, bei FIFA und Co., können die Spielerinnen nicht auf viel Schutz hoffen.
Das Prinzip bei vielen regionalen Organisationen ist ja, dass Vertreter der verschiedenen Verbände entsendet werden. So ist Ramón Jesurún zum Beispiel Präsident des kolumbianischen Verbandes, aber auch Vize-Präsident der südamerikanischen CONMEBOL und im Exekutivkomitee der FIFA. Wenn Jesurún und Co. in ihrem eigenen Verband jegliche Kritik unterdrücken, ist es unwahrscheinlich, dass die CONMEBOL eine andere Haltung einnimmt - abgesehen davon, dass sie solche Themen gerne als Ländersache abstempeln.
Sechstes Problem: Umgang mit Kritik. Auf dieser Ebene kommt man bei dem Problem an, das in der Öffentlichkeit sichtbar ist: Wenn Spielerinnen, die den Verband oder den Trainer kritisiert haben, plötzlich nicht mehr nominiert werden. Aus rein sportlichen Gründen natürlich. So erging es etwa Argentiniens Estefanía Banini oder Frankreichs Amandine Henry.
Kolumbien: Viele komplexe Probleme kommen zusammen
Das Gleiche gilt für Kolumbiens Yoreli Rincon und Daniela Montoya, beides Leistungsträgerinnen, die sich öffentlich zu den Problemen mit dem Verband äußerten. In dem Fall von Montoya wurde dem Trainer vom Vize-Präsidenten sogar gedroht, er würde seinen Job verlieren, falls er sie wieder ins Team aufnehme. Inzwischen ist Montoya wieder im Team - auch das ist eine Geschichte, die man erzählen könnte.
Die Sanktionierung von öffentlicher Kritik erregt oft am meisten Aufmerksamkeit, aber ist in vielen Fällen nur die Spitze vom Eisberg. Zu den aufgezählten Problemen könnte man noch viele weitere hinzufügen. In Kolumbiens Fall findet sich alles wieder: Sexueller Missbrauch durch einen ehemaligen U17-Trainer - er steht immer noch in engem Kontakt zum Verband und darf die Meetings besuchen. Nicht gezahlte Prämien, Beleidigungen, Homophobie, Korruption, Vetternwirtschaft, ein Klima der Angst.
Kurz vor der WM scheint es etwas besser geworden zu sein, aber das kann auch nur der Eindruck sein, den der Verband erwecken will. Noch immer liegt viel im Argen, das zeigt allein das Fehlen einer einzigen Entschuldigung. Wenn Deutschland im zweiten Gruppenspiel gegen Kolumbien antritt, kann man daher über die schönen Geschichten des Fußballs reden. Aber wenn sich der Diskurs auf Taktik und Superstars beschränkt, ist diese WM eine verpasste Chance.
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