Sommermärchen 2.0 - Wir haben mehr als einen Titel gewonnen
Von Oliver Helbig
Eigentlich weiß man seit Freitagabend gar nicht, wo man anfangen soll. Der Schock sitzt noch tief und die Leere nach dem Ausscheiden gegen Spanien lähmt auch heute. Nach all dem Kampf und der Leidenschaft, mit der sich die deutschen Spieler in das Spiel geworfen und Chance um Chance herausgespielt haben - und dann köpft Mikel Merino den Ball in die deutschen Titelträume. Zuerst dachte ich, der Ball sei ans Außennetz gegangen und war kurz erleichtert - bis ich merkte, dass der Ball nicht am, sondern im Netz zappelte. Aus der erst einsetzenden Erleichterung wurde rasch blankes Entsetzen. Wie in Zeitlupe setzten die spanischen Spieler zum Jubellauf an und irgendwie fühlte es sich wie ein böser Traum an. Wie sollte man das bei der fast abgelaufenen Spielzeit noch retten?
Diese kurze Schockstarre wurde durch den deutschen Sturmlauf auf das Tor von Unai Simon nochmals unterbrochen und mit jedem Ball, der Richtung spanisches Tor flog, flammte die Hoffnung auf ein weiteres Wunder auf. Bereits in der regulären Spielzeit brachen mit dem Ausgleich von Florian Wirtz ja alle emotionalen Dämme und man hatte den Eindruck, die DFB-Elf würde das Ding jetzt durchziehen, Spanien aus dem Turnier werfen und den nächsten Schritt zum Titel machen. Vorbei. Vorbei all der Jubel und die Euphorie. Leere, Frust und Fassungslosigkeit. Tränen bei jung und alt. Und trotzdem auch Stolz und Dankbarkeit.
Julian Nagelsmann hat dem deutschen Fußball neues Leben eingehaucht
Bundestrainer Julian Nagelsmann und seinem Trainerteam um Sandro Wagner, Benjamin Glück, Mads Buttgereit, Andreas Kronenberg, Michael Fuchs, Nicklas Dietrich und Krunoslav Banovcic ist etwas gelungen, was vor der EM nur wenige zugetraut hätten. Sie haben dem deutschen Fußball und der deutschen Nationalmannschaft neues Leben eingehaucht. In den Monaten vor dem Turnier gab es wenige Höhen und viele Tiefen, Momente wie die Spiele gegen Österreich oder die Türkei, in denen sich die Hoffnungen der deutschen Fans auf eine erfolgreiche und mitreißende Europameisterschaft im eigenen Land fast in Luft auflösten, weil man phasenweise kaum noch hinschauen wollte. Kaum jemand konnte oder wollte sich als Fan mit dem Geschehen auf dem Rasen noch identifizieren. Die Nominierung des EM-Kaders durch den Bundestrainer sorgte dann wieder bei einigen für Stirnrunzeln und Skepsis. Doch die deutsche Nationalmannschaft hat mit Herz und vollem Einsatz alles aus dem Weg geräumt.
Die Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft ging nach dem WM-Titel 2014 stetig bergab und mit jedem weiteren Turnier wurde die Nationalmannschaft auch bei den deutschen Fans mehr und mehr zum ungeliebten Kind, über das vor allem mit Häme gesprochen wurde. Wir alle sollten uns an die letzten Welt- und Europameisterschaften oder Länderspiele im Allgemeinen erinnern und daran, wie wir uns nach den Spielen der deutschen Auswahl gefühlt haben, wie wir über sie geschimpft und gespottet haben und wie über sie berichtet wurde. Und dann sollten wir uns nach dem gestrigen Spiel fragen, ob von diesen Gefühlen noch etwas übrig geblieben ist. Ich sage: Nein! Die DFB-Elf hat sicherlich nicht fehlerfrei und makellos gespielt, aber das, was der Nationalmannschaft in den letzten Jahren immer wieder abgesprochen wurde, nämlich Einsatz, Wille, Kampf und Leidenschaft, deutsche Tugenden, die mit den feinen Füßen unserer Nationalspieler verbunden wurden, sind mit jedem weiteren EM-Auftritt in den letzten Tagen wieder in die Köpfe und Herzen der Fans zurückgekehrt. Mit ehrlichem Fußball und Aufopferung.
Wir haben ein Spiel verloren aber neuen Mut gewonnen
Lieber Julian, ich glaube nicht, dass Du Dir bewusst bist, was Du mit Deinem Trainerteam und den Spielern erreicht hast. Natürlich schmerzt die sportliche Niederlage. Natürlich tut es weh bei der Heim-Europameisterschaft nicht bis ins Finale gekommen und derart tragisch ausgeschieden zu sein und natürlich wird man diesem vielleicht einmaligen Erlebnis noch lange nachtrauern, aber ich hoffe ihr versteift euch nicht auf den sportlichen Ausgang dieses Turniers. Viel wertvoller als der Titel ist das, was ihr den deutschen Fans und der Fußballnation Deutschland geschenkt und zurückgegeben habt.
Nach jedem eurer Spiele waren es mehr Fans, die sich auf die Straße getraut haben, mehr Autos, die mit Deutschlandfahnen geschmückt wurden, mehr Balkone, die schwarz-rot-gold dekoriert waren, mehr Grillfeste, bei denen man euch mit Bratwurst und Steak in der Hand im Kreise von Freunden und Familie angefeuert und mitgefiebert hat. Das große Fremdeln vor Turnierbeginn war schnell verflogen und ihr habt es geschafft, dass sich Mannschaft und Fans wieder gegenseitig getragen haben. Ihr habt euch nichts vorzuwerfen und ich wünsche euch für euren weiteren Weg, dass ihr dieses Gefühl des Stolzes mitnehmt und irgendwann realisiert, dass das was ihr diesem Land geschenkt habt, weitaus mehr wert ist als irgendein Pokal.
Ihr habt eine Leere gefüllt, die Fußball-Deutschland seit Jahren schmerzte und uns neue Träume und Hoffnungen für die WM 2026 geschenkt. Ihr habt im Bezug auf die Nationalelf Gleichgültigkeit wieder mit frischer Euphorie gefüllt. Dass das Ausscheiden gegen Spanien bei allen jetzt so schmerzt, zeigt nur, wie viel ihr für Fußball-Deutschland erreicht habt. Dafür spreche ich sicher auch im Namen vieler anderer, die das genauso sehen: DANKE für das Sommermärchen 2.0!