Same procedure as every year, HSV?
Von Guido Müller
Alle Jahre wieder beginnen in Hamburg, genauer gesagt im Westen der Stadt beim einstmals großen HSV, nach einer Saison die großen Aufraumarbeiten. Wie eine Konstante ziehen sich durch die letzten Spielzeiten das Verpassen der vorher gesteckten Ziele - und daran anschließend die notwendigen Korrekturmaßnahmen. Dass es nach diesem alptraumhaften Saisonfinale anders werden könnte, ist so gut wie ausgeschlossen.
Schon im Winter bröckelte Heckings Souveränität im Umgang mit Kritik
Denn hinter den Kulissen rumorte es in der Gerüchteküche schon vor der Corona-Pause, stand Trainer Dieter Hecking bereits nach dem Einbruch in den letzten sechs Spielen der Hinrunde vereinsintern in der Kritik. Heckings dünnhäutige Reaktionen auf die lauter werdende Medienschelte und Kritik aus dem Fan-Lager konnten in diesem Zusammenhang nur verwundern. Hatte man Hecking nicht gerade wegen seines vermeintlich souveränen Umganges mit Nebenschauplätzen in den Volkspark geholt? Und dann mokiert er sich, wenn die Presse sich darüber erzürnt, dass nach dem grandiosen (wenn auch Sand in die Augen streuenden) 6:2-Triumph am 11. Spieltag gegen den VfB Stuttgart aus den folgenden sechs Spielen (gegen Mannschaften wie Wiesbaden, Kiel, Dresden, Osnabrück, Heidenheim und Sandhausen) nur noch ein einziger Sieg heraussprang? Und schimpft Fans übergewichtige Nerds, die den ganzen Tag vor ihrem Computer hocken? Dabei sind sowohl die Presse als auch die Fans noch verhältnismäßig ruhig geblieben in den letzten Wochen des Jahres 2019.
Keine Entwicklung zu erkennen - weder im Kollektiv noch bei den einzelnen Spielern
Für mich blätterte schon damals, im Spätherbst und Winter 2019, etwas von der goldenen Fassade des Trainers ab. Zumal sich Hecking ja von Beginn an als HSV-Fan geoutet hat und entsprechend vorbereitet auf die Medienlandschaft in der Hansestadt gewesen sein müsste. Doch ist das letzten Endes nur den Blick für die Situation schärfendes Beiwerk. Den Hauptgrund, über Heckings Zukunft (bzw Nicht-Zukunft) in Hamburg nachzudenken, liefert seine Truppe. Und zwar im kollektiven Versagen genauso so wie in der jeweiligen individuellen Entwicklung.
Exemplarisch werde ich mal ein paar Spieler benennen. Im September hatte der HSV am 7. Spieltag Erzgebirge Aue zu Gast. Das war eine Woche nach dem ernüchternden Auftritt im Stadtderby gegen den FC St.Pauli (0:2). Aue war zu diesem Zeitpunkt tabellarisch gesehen eine Spitzenmannschaft, lag mit lediglich zwei Punkten Rückstand auf den HSV (der zweiter war) auf einem überraschenden fünften Platz. Nach etwas behäbigem Start bekam der HSV das Spiel gut in den Griff und siegte am Ende mit 4:0. Spieler des Tages damals für mich war Rick van Drongelen, der mit klugen langen Pässen ein Tor einleitete und ein weiteres vorbereitete.
Am folgenden Sonntagabend fand sich der junge Holländer dann im NDR-Sportclub als Gast wieder - und konnte auch dort einen überzeugenden Medienauftritt hinlegen. Ich ging damals mit der beruhigenden Gewissheit ins Bett, einen mehr als soliden Innenverteidiger in den eigenen Reihen heranwachsen zu sehen. Geerdet war er schon - jetzt müsste nur noch ein bisschen an den Defiziten gearbeitet werden.
Das war also vor ziemlich genau neun Monaten. Wenn man sich die Entwicklungskurve des Holländers seitdem anschaut, könnte man meinen, zwischendurch hätte ihn ein schweres persönliches Schicksal oder ähnliches getroffen. Von dem vor Selbstvertrauen strotzenden Innenverteidiger ist fast nichts mehr übrig geblieben. Bezeichnenderweise ist er dennoch weiterhin der lauteste aller HSV-Spieler auf dem Platz.
Fein, Hinterseer, Jatta - alle wurden kontinuierlich schlechter
Natürlich ist eine Fußball-Mannschaft ein hochkomplexes weil sehr dynamisches Gebilde. Spieler verlieren ihre Form, während sie andere wiedererlangen - und umgekehrt. Doch nicht nur mit Blick auf Rick van Drongelen sei die Frage erlaubt: wer hat sich unter Hecking in den letzten Wochen und Monaten eigentlich kontinuierlich weiterentwickelt?
Nüchtern muss man feststellen: so gut wie keiner. Leistungsträger aus der Hinrunde, wie Adrian Fein oder Lukas Hinterseer (zumindest was dessen Torausbeute betrifft) laufen seit Monaten ihrer Form hinterher. Was Hecking jedoch auch nicht daran hinderte, Fein allwöchentlich aufs Neue aufzustellen.
Nur in Heidenheim wagte es Hecking ohne die Bayern-Leihgabe: mit bekanntem Ausgang. Oder nehmen wir einen Tim Leibold. Sicher, der beste Torvorbereiter der Liga. Aber auch Leibold ließ sich in den letzten Wochen immer mehr anstecken von der allgemeinen Verunsicherung im Team. Im gestrigen Spiel in Heidenheim provozierte er in Halbzeit 2 ein paar schlimme Ballverluste, weil immer noch ein Schlenker eingebaut werden muss, bevor der Ball abgespielt wird.
Aaron Hunt? Konnte sich zwar gesundheitlich gegenüber dem Vorjahr steigern - doch für die Rolle des Anführers auf dem Platz sind seine spielerischen Leistungen einfach zu mau. Als er gestern kurz vor der Halbzeit zwei absurde Ballverluste am eigenen Strafraum provozierte, wusste ich schon, was mich in den zweiten 45 Minuten erwarten würde.
Meine Prognose ging bis auf die Minute genau ("Zehn Minuten vor Schluss fangen sie sich das 1:1 und kurz vor Ultimo kriegen sie noch das 1:2 obendrauf!") auf. Oder Bakery Jatta. Vom Fan-Liebling, der während der August-und Septemberwochen sogar zu einem Politikum wurde, ist der Gambier mittlerweile auf den Rang eines Statisten zurückgefallen. Eine Entwicklung ist auch hier leider nur im negativen zu erkennen.
Und das alles hat letzten Endes der leitende Angestellte eines Klubs, sprich: der Trainer, zu verantworten. Wie auch die Tatsache, dass man plötzlich ab der Winterpause im Grunde genommen ohne die Hälfte der verfügbaren Innenverteidiger auskommen musste. Weil der eine (Papa) vom Hof gejagt wurde und der andere (vom Trainer vor der Saison als Wunschspieler angepriesen!) mal so überhaupt nicht die Erwartungen erfüllen konnte.
Von Ewertons "Mitgift" in diese Ehe (eine Verletzung, die sich der Herr Profi-Fußballer beim Strandkicken im Urlaub zugezogen hatte) wollen wir an dieser Stelle erst gar nicht sprechen.
HSV angeblich in Kontakt mit Tim Walter
Und nochmal: ich war einer der glücklichsten Hamburger, als der Hecking-Deal im Frühsommer letzten Jahres perfekt war. War davon überzeugt, dass der HSV endlich den Typus Trainer gefunden hatte, der mit seiner ruhigen, besonnenen Art (die sich jetzt immer mehr als Sturheit interpretieren lässt!) diesen Kahn wieder flott machen könnte.
Und auch würde. Klarer Fall von denkste. Und so kann es nun auch überhaupt nicht verwundern, wenn die Trainerfrage immer heißer wird in Hamburg. Zwar betont Sportvorstand Jonas Boldt im branchenüblichen Jargon: "Der erste Ansprechpartner für die neue Saison bleibt Dieter Hecking!" (Quelle: bild.de), aber das will überhaupt nichts heißen - im Gegenteil: wenn Boldt Hecking nächste Woche keine Verlängerung anbieten würde, hätte er noch nicht mal gelogen.
Zuerst mit dem Trainer sprechen (um ihm die Trennung zu übermitteln) ist der normale Lauf bei solchen Entscheidungen. Die Mopo, unter Berufung auf Aussagen von Sky-Reporter Yannick Erkenbrecher, wartet auch schon mit konkreten Namen auf. So soll der Klub bereits mit dem früheren VfB-Coach Tim Walter (der mit dem VfB die laufende Saison begonnen hatte) in Kontakt getreten sein.
Ob nun ein Trainerwechsel nach dem am kommenden Sonntag wohl endgültig besiegelten Super-GAU (erneuter Nicht-Aufstieg in die Bundesliga) ansteht oder nicht - die Sommerpause dürfte rund um den Volkspark abermals nicht viel ruhiger ablaufen als schon in den vergangenen Jahren.