Road to EM 2020 - Die deutsche Offensive: Müllert es wieder oder vertraut Löw der neuen Generation?
Von Christian Gaul
Nachdem Thomas Müller zu den drei Spielern gehörte, die im März 2019 aus der deutschen Nationalmannschaft zurückgetreten worden sind, steht der mittlerweile 31-Jährige vor einem Comeback in der DFB-Auswahl. Für die kommende Europameisterschaft könnte er ein wichtiger Faktor werden, allerdings präsentieren sich auch die anderen deutschen Offensivkräfte in guter Form.
90min wirft während der Länderspielpause einen ausführlichen Blick auf den aktuellen Kader der deutschen Nationalmannschaft und stellt die einzelnen Spieler in einer kleinen Serie vor. Dabei betrachten wir die bisherigen Erfolge und ordnen die Chancen der Profis in Bezug auf eine Teilnahme an der EM 2020 ein.
Thomas Müller als Führungsfigur gebraucht
Nach dem Aus in der Gruppenphase bei der WM 2018 und den danach hochkochenden Diskussionen um eine längst überfällige Verjüngung der deutschen Nationalmannschaft, wählte Bundestrainer Jogi Löw auch den langjährigen Erfolgsgaranten Thomas Müller als "Opfer" seiner neuen Richtlinien.
Da jedoch nach offizieller Begründung des DFB auch die Pandemie für einen eher schleppenden Prozess der Neufindung innerhalb der Landesauswahl verantwortlich war, wird Löw bei der EM 2020 wohl wieder auf Müller vertrauen.
Dabei sind nicht nur die fußballerischen Stärken und die aktuelle Form des Angreifers für dieses Umdenken ausschlaggebend. Vielmehr könnte Müller eine bisweilen verloren gegangene Hierarchie in die Offensive implementieren.
Über 20 Jahre beim FC Bayern haben Müller geprägt, der gebürtige Weilheimer verkörpert den Anspruch und den Ehrgeiz des Rekordmeisters, wie kein anderer Profi. In der Ansammlung von hochtalentierten Spielern im Angriff der DFB-Auswahl bildete sich nach seiner "Entlassung" ein Vakuum - Spielertypen wie Werner, Gnabry, Havertz und Sané konnten dieses aufgrund ihrer geringeren Erfahrung bislang nicht füllen.
Als Orientierungsfigur auf und neben dem Platz könnte Müller diese Lücke wieder schließen und für eine klare Hackordnung sorgen. Doch auch abseits dieser Rolle hat es Müller schlicht aufgrund seiner derzeitigen Form verdient, ein Teil des EM-Kaders zu sein.
In der laufenden Saison verpasste der Lautsprecher nur vier Pflicht-Spiele für den FC Bayern, Grund war eine Covid-Infektion. Ansonsten stand Müller immer auf dem Platz und sammelte dabei nicht nur 13 Tore, sondern konnte er auch schon 17! Vorlagen liefern. Zieht man nur die Daten aus der aktuellen Saison der Bundesliga heran, war er im Schnitt in JEDEM seiner 24 Ligaspiele an einem Treffer direkt beteiligt.
Thomas Müller muss zur Europameisterschaft!
Die bisherigen Erfolge von Thomas Müller:
- neunfacher deutscher Meister mit dem FC Bayern
- sechsfacher DFB-Pokalsieger mit dem FC Bayern
- zweifacher Sieger der Champions League mit dem FC Bayern
- Weltmeister 2014 mit Deutschland
- 100 Länderspiele für Deutschland
Serge Gnabry vom Talent zum Goalgetter
Serge Gnabry wechselte 2011 mit nicht einmal 16 Jahren von der Jugend des VfB Stuttgart in die Nachwuchsabteilung des FC Arsenal. Dort galt er als vielversprechendes Talent, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen und kehrte 2016 in die Bundesliga zurück.
Bei Werder Bremen legte er mit elf Toren in 27 Ligaspielen eine starke Saison aufs Parkett und fand sich nach nur zwölf Monaten an der Weser bereits als Profi des FC Bayern ein, der jedoch umgehend für eine weitere Spielzeit an die TSG Hoffenheim verliehen wurde.
Nach 17 direkten Torbeteiligungen in 22 Ligaspielen für die TSG gehört Gnabry seit dem Sommer 2018 nun zum festen Bestandsteil der Mannschaft des Rekordmeisters. Für die Münchner sammelte er seitdem 46 Tore und 28 Vorlagen in 121 Pflichtspielen - was sich nach einer sehr guten Quote anhört, verblasst ein wenig im Hinblick auf seine Auftritte in der DFB-Elf.
Bereits im November 2016, also noch zu Bremer Zeiten, feierte Gnabry sein Debüt unter Jogi Löw. Beim 8:0 in San Marino steuerte er gleich drei Tore bei und hielt auch in der Folge einen überragenden Schnitt.
Nach mittlerweile 18 Einsätzen für die deutsche Nationalmannschaft kann Gnabry 14 Tore und sechs Vorlagen vorweisen - im Schnitt also mehr als eine Torbeteiligung pro Partie. Das ihm früh entgegengebrachte Vertrauen seitens des DFB und Löw zahlt sich nun aus.
Für die EM 2020 und auch die weitere Zukunft ist Gnabry aus dem Nationalteam nicht wegzudenken
Die bisherigen Erfolge von Serge Gnabry:
- zweifacher deutscher Meister mit dem FC Bayern
- zweifacher DFB-Pokalsieger mit dem FC Bayern
- zweifacher FA-Cup-Sieger mit dem FC Arsenal
- Gewinner der Champions League 2020 mit dem FC Bayern
- 18 Länderspiele für Deutschland
Leroy Sané auf der Suche nach seiner Rolle
Der Vater ein ehemaliger Bundesligaspieler, die Mutter eine Olympia-Dritte in der Rhythmischen Sportgymnastik - für Leroy Sané konnte der Weg eigentlich nur in den Profisport führen. Leroy Sané durchlief die Schalker und Leverkusener Jugend, bevor er 2014 sein Bundesliga-Debüt in Königsblau feierte.
Nur zwei Jahre später verließ der Schalker Hoffnungsträger jedoch die Knappen, um sich dem großen Manchester City anzuschließen. Dort reifte er unter Trainer Pep Guardiola zum absoluten Weltklassespieler heran, der zuletzt jedoch immer wieder Probleme aufzeigte, seine Top-Qualitäten auf den Rasen zu bekommen.
Nachdem sich Sané nach 84 Torbeteiligungen in 135 Spielen für Manchester im Sommer 2020 dem FC Bayern anschloss, tut er sich schwer, seine eigentliche Rolle auf dem Platz zu finden.
Jedoch muss man dem mittlerweile 25-Jährigen attestieren, dass er nicht stagniert und sich stetig besser beim FC Bayern und im DFB-Team akklimatisiert. Seine Quote von acht Toren und elf Vorlagen in bisher 34 Spielen für den deutschen Rekordmeister ist nicht überragend, jedoch auch alles andere als schwach.
Für die DFB-Auswahl lief Sané bislang in 26 Partien auf, in denen der Ausnahmekönner sechs Tore erzielen konnte. Luft nach oben ist sicherlich auch hier vorhanden, doch wird ihm eine EM-Teilnahme niemand streitig machen können.
Die bisherigen Erfolge von Leroy Sané:
- zweifacher englischer Meister mit Manchester City
- FA-Cup-Sieger 2019 mit Manchester City
- 26 Länderspiele für Deutschland
Kai Havertz als Schlüsselfigur der Zukunft
Falsche Neun, Zehn, Acht, auf den offensiven Außenbahnen, als hängende oder einzige Spitze - Kai Havertz kann von seinen Anlagen her alle Positionen im Angriff bekleiden. Nachdem er über die Aachener Jugend und den Nachwuchs von Bayer Leverkusen durchlief, leitete er von 2016 bis 2020 die offensiven Geschicke der Werkself wie ein alter Hase. Dabei war Havertz selbst zur Zeit seines Wechsels zum FC Chelsea im vergangenen Sommer erst 21Jahre alt.
Rund 80 Millionen Euro ließen sich die Blues den Transfer des Allrounders kosten, doch erst mit der Ankunft von Thomas Tuchel als Chelsea-Trainer scheint Havertz sich in London ordnungsgemäß zu etablieren.
Bereits 2018 feierte Havertz sein Debüt im DFB-Team, bislang kann er elf Einsätze, drei Tore und sechs Vorlagen unter Jogi Löw verbuchen. In der Nationalmannschaft der Zukunft wird Havertz eine gewichtige Rolle einnehmen, wenn er weiter so fokussiert und ambitioniert bleibt, wie er es bisher getan hat.
Bei der EM 2020 wird er sich vermutlich mit Thomas Müller um die Position als offensiver Gestalter streiten. Doch muss sich der Youngster nicht vor dem erfahrenen Müller verstecken und kann zudem aufgrund seiner Vielseitigkeit auch andere Rollen übernehmen.
Die bisherigen Erfolge von Kai Havertz:
- Gewinner der Fritz-Walter-Medaille in Gold 2018
- elf Länderspiele für Deutschland
Timo Werner: Der Flitzer mit Torriecher
Nachdem Werner die komplette Stuttgarter Jugend durchlief und für den VfB auch bei den Profis debütierte, ging er im Sommer 2016 zum damaligen Aufsteiger RB Leipzig - 95 Tore und 40 Vorlagen in 159 Partien für die Sachsen sprechen eine deutliche Sprache. Im vergangenen Sommer schloss er sich, wie Havertz, dem FC Chelsea an und auch er profitierte von der Übernahme Tuchels.
In seiner vorerst letzten Bundesliga-Saison verabschiedete sich Werner mit 28 Treffern aus Leipzig, aktuell steht er bei zehn Toren und zehn Vorlagen in 39 Partien für Chelsea. Dabei ist es für Trainer Experten, Fans und Gegenspieler gleichermaßen schwer, den 25-Jährigen und dessen Position auf dem Feld zu greifen.
Werner ist weder ein klassischer Flügel-, noch Mittelstürmer oder hängende Spitze. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die vielzitierte Polyvalenz, vielmehr nimmt der wieselflinke Angreifer eine einzigartige Rolle ein.
Sprechen seine überragende Schnelligkeit und seine Vorlagenqualität für einen klaren Außenbahnspieler, lassen seine Torriecher und seine Nervenstärke im gegnerischen Sechzehner eher auf einen zentralen Angreifer schließen.
In Leipzig wurde Werner unter Trainer Julian Nagelsmann oft "genau dazwischen" aufgestellt, der Leipziger Angriff wurde in seiner Gesamtheit auf den Stürmer zugeschnitten. Im DFB-Team und auch beim FC Chelsea muss sich Werner, auch ob der großen Konkurrenz, hingegen eher in ein Korsett begeben, dass am ehesten seinen Stärken entspricht.
Scheinbar klappte diese Anpassung bislang ganz gut für Werner, der in bislang 36 Länderspielen starke 15 Tore ablieferte.
Mit den ebenfalls sehr anpassungsfähigen Sané, Havertz und Gnabry an seiner Seite, reiht sich Werner jedoch hervorragend ein. Nach der Löw-Ära wird man jedoch eine klare Rollenverteilung benötigen. Man darf gespannt sein, inwiefern dann eventuell der Angriff - nach Leipziger Art - um Werner herum aufgestellt wird.
Die bisherigen Erfolge von Timo Werner:
- Confed-Cup-Sieger 2017 mit Deutschland
- 36 Länderspiele für Deutschland