Quo vadis, Barça?
Von Guido Müller

Der 14. August 2020 wird in den Annalen des FC Barcelona, auch über die kommenden Jahrzehnte hinaus, einen prominenten Rang einnehmen. Niemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Klubs, und dabei kann man getrost bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückgehen, wurden die Blaugrana derart gedemütigt wie an diesem Abend. Auch mehr als einen Monat danach sind die Wunden des 2:8 im Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Bayern längst nicht verheilt.
Dabei hat die neue Spielzeit bereits begonnen. Zwar steht dem FC Barcelona sein Liga-Start (am kommenden Sonntag gegen Villarreal) - im Gegensatz zu den Königlichen - noch bevor, doch der Chip muss natürlich spätestens jetzt schon umgelegt sein. Was war, das war - jetzt zählt nur noch das, was kommt. Doch was ist zu erwarten von einem Klub, der in diesem Sommer bisweilen am Rande der Autoimplosion stand? Und zwar nicht nur wegen der Schmach gegen den deutschen Rekordmeister.
Denn fast genauso die Grundfesten der Institution erschütternd war das im Anschluss an die Rekordniederlage sich abspielende Drama um ihren Superstar Lionel Messi. Dem fiel, zwischen 2:8 und neuer Saison, ein, dass er eigentlich mal einen Tapetenwechsel gebrauchen könnte. Wobei der Argentinier es clevererweise stets so formuliert hat, dass er "seinem" Klub damit die Möglichkeit einer Generalüberholung verschaffen wollte. Wer's glaubt...
Die wochenlangen Diskussionen um Vertragsdetails, die Selbsterniedrigung des Klub-Präsidenten, der anbot, seinen Platz zu räumen, wenn denn dadurch ein Sinneswandel bei Messi einsetzen würde, die später immer hässlicher werdenden Anschuldigungen und Bezichtigungen des Vertragsbruches - all das hat dem Verein enormen Schaden zugefügt. Und wertvolle Zeit und Ressourcen gebunden, die auf dem Transfermarkt sicherlich besser investiert gewesen wären.
Denn nun, knapp zwei Wochen vor Transferende, zeichnet sich ab: Messi bleibt ein weiteres (und wohl letztes) Jahr im Nou Camp. Zweifel an seiner Professionalität auf dem Platz muss man eher nicht haben. Messi wird sich sportlich genau so einbringen wollen, wie in den sechzehn Jahren zuvor auch. Aber auch er wird nicht jünger. Und schon in der letzten Spielzeit waren es meist seine Einzelaktionen, die ein wenig Glanz in das Spiel der Katalanen brachte. Aber auch Messis Interventionen werden weniger. Und daran leidet das ganze Spiel der Blaugrana.
Wie sicher sitzt Koeman auf dem Trainerstuhl?
Einen neuen Trainer haben sie erstmal. Und zwar auch eine Klub-Legende. Doch wenn man sieht, wie andere Vereinsgrößen in diesem Klub schon verabschiedet wurden, braucht man aus diesem Umstand nicht unbedingt einen Vorteil für Koeman abzuleiten. Zumal eine andere große Klub-Ikone, nämlich Xavi Hernández, bereits ihren Schatten vorauswirft. Im kommenden Jahr sind Präsidentschaftswahlen in Can Barça - und einige der aussichtsreichsten Kandidaten kokettieren bereits mit ihrer Beziehung zu Xavi und haben dessen Installierung als neuen Cheftrainer zum Hauptversprechen ihres Wahlkampfes gemacht.
Auch die Tatsache, dass Koeman bei Suárez nicht so konnte, wie er ursprünglich wollte, dürfte vom Rest des Kaders genauestens registriert worden sein. In der Summe muss man beinahe Angst haben, dass der Holländer nicht ganz schnell zur lame duck in der Kabine wird.
Und rein sportlich? Sieht es auch eher mau aus. Medial alles überstrahlende Mega-Verstärkungen sind jedenfalls nicht an Land gezogen worden. Kein Pierre-Emerick Aubameyang, kein Lautaro Martínez. Sicherlich auch der Corona-Pandemie geschuldet. Aber andere Vereine kriegen es ja auch hin, ihren Kader auch in diesem Sommer sinnvoll zu verstärken. Das Problem beim FC Barcelona ist gleichzeitig ihre Rettung: Lionel Messi.
Im Nachhinein muss man wohl sagen: hätten sie bloß damals die Offerte von Manchester United angenommen. In einem Mix aus Geldsumme und Verrechnung mit Spielern wären die Blaugrana in etwa auf einen ähnlich hohen Betrag gekommen, wie sie ihn seinerzeit bei Neymars Wechsel zu Paris St. Germain erhalten haben. Dann würden wir jetzt über prall gefüllte Konten und merklich entlastete Lohnkosten (Messi verdient rund 50 Millionen Euro netto jährlich) sprechen, und würden vielleicht Zeuge einer aufregenden Verjüngungskur.
Gute Spieler, auch sehr gute oder überragende, wird es nämlich immer geben. Es gab eine Zeit nach Maradona, genau so wie eine Zeit nach Ronaldo. Und so wird es auch eine Zeit nach Messi geben. Und auch wenn es vielleicht Jahre oder Jahrzehnte dauern wird: irgendwann wird wieder ein Superstar den Rasen des Nou Camp betreten. Vielleicht sind wir in der Bundesliga ja gerade Zeugen der Geburt eines solchen. Haaland, Sancho oder Alphonso Davies. Um nur mal ein paar Namen aus der hiesigen Bundesliga zu nennen...
Kein Geld für die ganz großen Transfersprünge
Doch der Klub entschied sich, Messi mit allen Mitteln zu halten. Und muss jetzt mit den Folgen dieser Entscheidung leben. Die unmittelbare davon ist: keine Liquidität. Weshalb sogar ein zu anderen Zeiten eher durchrutschender Posten wie Memphis Depay auf einmal unerschwinglich scheint. Und wir reden hier über 25 Millionen Euro. Oder in anderen Worten: die Hälfte von Messis jährlichem Netto-Verdienst.
Abgesehen von den neun Leih-Heimkehrern, von denen Philippe Coutinho sicherlich der prominenteste ist, haben die Katalanen bislang vier Transfers getätigt: am meisten haben sie sich die Dienste des Bosniers Miralem Pjanic kosten lassen. Satte 60 Millionen Euro flossen damals von Barcelona nach Turin, während 70 Millionen (für Arthur) im Rückfluss aus dem Piemont kamen. Viele im Umfeld des Klubs haben diesen "Tausch" nicht verstanden, aber die Expertise eines Pjanic, der während seiner vier Jahre bei der Alten Dame regelmäßig zu den Leistungsträgern gehörte, wird dem Spiel der Blaugrana gut tun. Doch ob das alleine reicht?
Das Prinzip Hoffnung
Denn den drei anderen Neuzugängen (Pedri, Trincão und Matheus Fernandes) tut man sicher keinen Gefallen, sie jetzt schon in den Rang der Säulenspieler zu heben. Ihre Verpflichtungen sind mit Blick auf die mittlere und längere Zukunft getätigt worden. Was aber im Umkehrschluss nicht heißt, dass man sich über eine vorzeitige "Leistungsexplosion" nicht freuen würde. Wie überhaupt vieles beim FC Barcelona momentan dem Prinzip Hoffnung anvertraut wird. Hoffnung, dass Messi nochmal voll durchzieht in seinem voraussichtlich letzten Jahr. Hoffnung, dass ein Coutinho im zweiten Anlauf und ein Dembélé im gefühlt schon vierten oder fünften endlich regelmäßig die PS auf den Rasen bringen, die man unter ihren Motorhauben erwartet. Hoffnung, dass vielleicht irgendein Eigengewächs (Carles Aleñá?) in dieser Saison seinen Durchbruch schafft. Und Hoffnung, dass ein Ronald Koeman als Trainer genauso wichtig wird wie als Spieler.
Doch Hoffnung kann bisweilen ein sehr instabiler Halt sein. Und während der große Konkurrent aus der Hauptstadt ebenfalls kaum Geld ausgibt, es angesichts eines ausgeglicheneren Kaders aber auch nicht so nötig hat wie die Blaugrana, und mit relativ breiter Brust in die neue Spielzeit geht, könnte beim FC Barcelona schon vom ersten Spiel an (gegen ein spielstarkes Team aus Villarreal) richtig Feuer unterm Dach sein. Dazu bedürfte es nicht einmal eines neuerlichen 2:8.