Projekt Nagelsmann: Wie steht es um das DFB-Team?
Von Oliver Helbig
Die ersten Länderspiele von Bundestrainer Julian Nagelsmann sind in den Geschichtsbüchern. Doch welche Erkenntnis nehmen wir mit und können wir nun optimistischer in die Zukunft und auf die Heim-EM blicken? Ein Kommentar.
Die ersten beiden Länderspiele unter der Leitung von Julian Nagelsmann als Nationaltrainer verliefen zwar ergebnistechnisch erstmal nicht negativ, doch so vollkommen positiv waren die Auftritte irgendwie auch noch nicht. Das kann man nach so kurzer Zeit aber auch noch nicht erwarten. Viele Probleme aus der Vergangenheit bestehen weiterhin. Unter anderem die Anfälligkeit der Defensive, die beim Spielstil des Ex-Bayern Trainers auch in Zukunft Thema bleiben wird und die auch in seiner Bayern-Zeit immer wieder Thema war. Doch viel mehr als die aktuellen Ergebnisse und Leistungen beschäftigen mich weitgreifendere Themen rund um unsere Nationalmannschaft.
Nach der Flick-Entlassung kamen in mir zwei Fragen auf. Zum einen, wem ich diesen undankbaren Job, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, jetzt zutrauen würde. Und zum anderen, bei welchem Trainer ich ein gutes Gefühl hätte, nicht nur sofort, sondern langfristig einen Mehrwert für den deutschen Fußball zu erzielen. Ehrlich gesagt sind mir von allen zur Verfügung stehenden Kandidaten ausschließlich Fragezeichen in den Kopf gekommen. Mit einer Ausnahme.
Zugegeben: auch als das Nagelsmann-Gerücht aufkam, hatte ich eher die Tendenz Fragezeichen. Ich konnte und kann mich auch nach den ersten Länderspielen nicht wirklich überwinden, den ehemaligen Bayern-Coach als die beste Lösung für den Job anzusehen. Aktuell. Nagelsmann ist aber definitiv auch nicht die schlechteste. In meinen Augen ist der 36-Jährige einfach die beste Lösung, die man auch relativ zeitnah umsetzen konnte oder wollte. Mit der USA-Reise vor der Nase war ein gewisser Zeitdruck nicht wegzudiskutieren. Mein persönlicher Wunsch war ohne Zweifel und mit dickem Ausrufezeichen aber ein anderer: Zinédine Zidane.
Warum Zidane?
Nach meiner Einschätzung hätte der DFB nach dem Flick-Aus besonders eine starke, nahezu unantastbare Persönlichkeit benötigt. Jemand, der eine gewisse Aura mit Erfolgen verknüpft. Ein Mann von Welt, eine Persönlichkeit, die wenig Raum für Kritik bietet. Jemand, der selbst große Erfolge errungen und Titel gewonnen hat. Als Spieler und Trainer. All das eint für mich von allen vermeintlich freien Trainern und darüber hinaus nur Zizou.
Als Spieler hat er eine unglaubliche Vita vorzuweisen, darüber täuscht auch der wenig ruhmreiche Abgang mit dem Kopfstoß gegen Marco Materazzi im WM-Finale 2006 nicht hinweg. Zidane ist eine absolute Legende des Weltfußballs. Einer der größten, die jemals einen Fuß in die Stadien dieses Planeten gesetzt haben.
Auch als Trainer hat er seine Qualität bereits eindrucksvoll dargelegt. Als einziger Trainer der Geschichte gewann er dreimal in Folge die Champions League. Seine Präsenz und das Erscheinungsbild eines Gentlemans verleihen ihm eine beeindruckende Ausstrahlung. Schwer vorstellbar, dass irgendjemand seine Vorstellungen und Wünsche, seine Idee vom Fußball auch nur in kleinster Weise in Frage gestellt hätte. Weder Spieler noch DFB-Funktionäre oder Bundesliga-Vereine. Sein Wort wäre wohl Gesetz gewesen und wahrscheinlich wären sämtliche Spieler an seinen Lippen geklebt, um etwas von dieser Magie aufzuschnappen.
Ich bin mir sicher, all das, was Zidane darstellt, hätte auch unsere Nationalspieler auf ein neues Level gehoben. Alleine schon in Sachen Einstellung zum Spiel, Selbstbewusstsein und Selbstverständnis. Zudem hätte die Person Zidane enorm viel Druck von den Spielern genommen. In seinem Schatten hätte man sich womöglich freier entfalten können als es jetzt der Fall ist und lange war.
Nagelsmann zu angreifbar?
Die Wunden des Bayern-Aus sind noch nicht verheilt. Für Medien und Kritiker ist es ein einfaches, Julian Nagelsmann ins Visier zu nehmen und Salz in diese noch offenen Wunden zu streuen. Meiner Meinung nach ist seine Bayern-Freistellung noch zu frisch gewesen, um in einen Job einzusteigen, der so im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht wie der Posten des Nationaltrainers. Und dann noch vor einer Heim-EM! Im Grunde genommen hat er sich mit dem Bundesadler zeitgleich auch eine Zielscheibe für die Giftpfeile derer über die Schultern gestreift, die nur auf Fehltritte warten.
In der aktuellen Situation, in der sich der DFB befindet, hat man mit Nagelsmann den vielleicht besten, talentiertesten, freien deutschen Trainer gewonnen, doch eben auch den, der am meisten polarisiert. Das ist auch gar nicht despektierlich gemeint und auch nicht vollends Schuld Nagelsmanns, doch der Werdegang des in Landsberg geborenen Trainers bietet von Haus aus viel Angriffsfläche. Jüngster Cheftrainer der Bundesligageschichte in Hoffenheim, dann RB Leipzig-Coach und dann der millionenschwere Transfer zum FC Bayern, in dem oft eher das Longboard des Trainers im Mittelpunkt war als die Überlegung, welch große Möglichkeit die Spielidee Nagelsmanns für die Zukunft des bayerischen und zugleich deutschen Fußballs bedeutete.
Das hat sich auch sofort beim ersten Länderspiel gegen die USA gezeigt. Das Bundes-Holzfällerhemd war gefühlt über allen sportlichen Themen erhaben. Ehrlich gesagt: lächerlich! und schade für diesen besonderen Tag des Ex-Bayern-Coaches.
Die Probleme sitzen tiefer
Die Zeit mit Hansi Flick war vor allem als Experiment zu verstehen. Das Projekt Zukunft, bei dem man sich selbst nicht ganz sicher ist, ob dieser Ansatz auch in Flicks Überzeugung war oder ob es mehr ein aufgedrücktes Klassenziel darstellte. Das Problem war, dass scheinbar bei allen und besonders beim DFB vergessen wurde, wofür die Nationalmannschaft einmal stand und wofür sie in anderen Ländern immer noch steht: Eine Auswahl der besten Spieler des Landes.
Ein Leistungsprinzip, in dem diejenigen belohnt werden, die Woche für Woche die besten Leistungen erbringen und nicht Spieler, deren Name lediglich in der Theorie die beste Leistung verspricht. Was aus dem Nationalteam gemacht wurde, war ein Labor für Jugend forscht, in dem es scheinbar wichtiger war, Spieler mit viel Talent und Perspektive einzusammeln, um möglichst kompetent zu erscheinen.
Es war wichtiger, den nächsten Shootingstar zu finden als ein Team, das über Jahre hinweg wieder und weiterhin für Qualität steht und für Ehrfurcht im Weltfußball sorgt. Ein Team, in dem es keinen krassen Umbruch gibt, sondern in dem über Jahre Hierarchien und Aufgaben übergeben werden. Unnötigerweise wurden gestandene Spieler, die immer noch Leistungen brachten, aussortiert, um Platz zu machen für die jüngeren. Teilweise wurden sogar Spieler zur Nationalmannschaft eingeladen, die noch nicht mal im eigenen Verein Stammspieler waren. Das Leistungsprinzip wurde somit zumindest gefühlt komplett ausgehebelt.
Wozu das geführt hat, hat sich dann auch schnell gezeigt. Ein wildes Potpourri aus Ausprobierten und keine erkennbaren Säulen, an denen sich Talente richten können, wenn sie zur Nationalelf stoßen. Diejenigen, die als neue Säulen auserkoren waren, waren mit der Situation überfordert, weil sie selbst nie in diese Rollen hineinwachsen konnten. Warum "erfahrene“ oder "ältere“ Spieler automatisch vom Leistungsprinzip ausgegrenzt wurden? Gute Frage, nächste Frage.
Für was steht der deutsche Fußball noch?
In meiner persönlichen Wahrnehmung fehlt dem deutschen Fußball vor allem eines: eine Identität. Zu oft hat man in der Vergangenheit einem Trend nachgeeifert, um dann wenig später dem nächsten zu folgen. Spanien spielt mit falscher Neun? Das machen wir auch!
Mittelstürmer ade. Weg mit einer Position, die den deutschen Fußball immer ausgezeichnet hat. Mittlerweile platzt unser Land von technischen Feingeistern, die spektakulär und temporeich die Flügel der Fußballplätze bespaßen, doch der Abnehmer im Zentrum wurde nahezu ausgerottet. Ich kann mich noch an meine Kindheit erinnern. Da stand der deutsche Fußball in erster Linie auch für unglaublichen Einsatz und die Bereitschaft, alles dafür zu tun, erfolgreich zu sein. Auch die Drecksarbeit.
Kampf und Leidenschaft bedeuten nicht, dass man damit zwingend die Schönheit des Spiels über Bord wirft, doch sind sie meiner Meinung nach immer noch die Basis des Spiels. Dafür benötigt man allerdings auch immer die sogenannten echten Typen auf dem Platz. Typen werden auch vom DFB regelmäßig gefordert, doch zur Wahrheit gehört auch, dass die bereits in jungen Jahren meist aussortiert werden, weil sich kaum jemand die Arbeit machen möchte, mit ihnen zu arbeiten. Das beginnt schon in den Amateur-NLZ's. Alles, was sich außerhalb der Schablone bewegt, kann weg. Diejenigen, die es dennoch schaffen und sich an der Schablone vorbei mogeln, werden dann eben später rasiert.
In meinem Gedächtnis schwingt noch die WM in Russland nach, als man blutleere Vorstellungen der DFB-Elf sah und man im Anschluss über mangelnde Typen jammerte. Kopfschütteln. Wenn man Typen benötigt, stellt sich die Frage, warum ein Sandro Wagner aussortiert wurde oder warum man einem Mats Hummels einen Maulkorb verpasste, der ansprach, was das ganze Volk am TV in ähnlicher Wahrnehmung verfolgte. Geändert hat sich seitdem nicht wirklich etwas.
Quo vadis, DFB?
Das Projekt Nagelsmann 2024 kommt im Nachgang und nach tieferem Befassen damit mit einem gewissen 'Gschmäckle' daher. War es lediglich die einfachste Lösung? Mit Sicherheit war es kein einfaches Unterfangen, in der Kürze der Zeit eine angemessene Lösung zu präsentieren, doch ehrlich gesagt fühlt es sich so an, als wäre der DFB von einem Projekt zum nächsten gesprungen.
Nagelsmanns Vertrag geht bis zur EM 2024. Danach geht wahrscheinlich erneut eine andere Zeitrechnung los. Ein anderer Trainer mit anderer Philosophie und womöglich werden auch die sich bis zum Turnier entwickelnden Säulen neu aufgebaut. Nagelsmanns Idee vom Fußball ist auch davon geprägt, etwas zu entwickeln. Was die Nationalmannschaft jetzt gebraucht hätte, wäre aber in erster Linie kein Entwickler, sondern ein Verwalter gewesen. Einer wie Zidane. Jemand, der wie erwähnt wenig Angriffsfläche bietet und dennnoch vor Kompetenz strotzt. Jemand, der nicht zwingend wegen seiner fantasievollen Spielidee bekannt ist und dennoch ein Team weiterbringen kann. Jemand, der über allem schwebt und somit frei von äußeren Einflüssen den Kader für die Europameisterschaft baut, der darüber hinaus weiter Erfolg garantiert.
Wäre Zidane günstig gewesen? Mit Sicherheit nicht. Wäre Zidane bereit gewesen? Das wird nur er wissen. Hat der DFB bei Zidane konkret angefragt? Da muss man den DFB fragen. Das Argument, einen deutschen oder zumindest deutschsprachigen Trainer bevorzugen zu wollen, werde ich jedenfalls nicht akzeptieren. Es ist an der Zeit, endlich mal über den Tellerrand hinauszuschauen.
Nagelsmann ist nicht zu beneiden, aber verdient größten Respekt
Julian Nagelsmann ist für mich der richtige Trainer zur falschen Zeit. Ich hätte mir für den neuen Bundestrainer eher ein Engagement im Ausland gewünscht. Bei einem Club, der ihm den Raum und das Vertrauen gibt, seine Idee weiter auszureifen. Indem er sich selbst noch entwickeln darf und in dem man ihm bei Pressekonferenzen nicht mehr über die Farbe seiner Hemden oder das Fortbewegungsmittel ausfragt, mit dem er am Trainingsplatz erscheint.
In einem Club, in dem er trotz großer Ambitionen Wurzeln und Flügel findet, die es ihm ermöglichen, zu dem großen Trainer zu werden, den alle im Ansatz schon sehen können. In einem Verein, der womöglich in der öffentlichen Wahrnehmung als Rückschritt angesehen wird, aber für ihn Goldwert wäre. In einem Verein, der zwar in Schlagdistanz zu den ganz Großen ist, aber dennoch nicht demselben öffentlichen Druck unterliegt. Vielleicht ein Verein wie Benfica oder Porto. Bei Eindhoven oder Feyenoord.
Ich wünsche Julian dennoch viel Erfolg für die bevorstehende Aufgabe und dass er nicht zum Gesicht des Scheiterns gemacht wird, wenn dieser Erfolg ausbleibt und für den die mangelhafte Arbeit eines Verbandes die Hauptverantwortung trägt. Das Amt des Nationaltrainers in der aktuellen Situation zu übernehmen, war im schlechtesten Fall äußerst naiv, doch in erster Linie verdient der Mut eines nach wie vor jungen Trainers, die sportlichen Hoffnungen einer gesamten Fußballnation auf seine Schultern zu satteln, größten Respekt. Danke dafür, Julian!
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