Planloser HSV? Tim Walter wehrt sich und ist vom eigenen Weg überzeugt

Sieht sein Team trotz der zuletzt mauen Resultate auf einem guten Weg: HSV-Coach Tim Walter
Sieht sein Team trotz der zuletzt mauen Resultate auf einem guten Weg: HSV-Coach Tim Walter / Martin Rose/GettyImages
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Die zwischenzeitliche Euphorie nach dem 2:0-Sieg beim Erzrivalen Werder Bremen ist beim Hamburger SV nach den drei jüngsten sieglosen Spielen (gegen Nürnberg, Aue und Düsseldorf) schon wieder verflogen. Stattdessen sieht sich Coach Tim Walter vermehrter Kritik an seinem Spielsystem ausgesetzt - und holt nun zum Gegenschlag aus.


Ich schrieb es vor ein paar Tagen bereits: insgesamt macht diese HSV-Mannschaft 2021/22 den Eindruck, genügend Potential zu haben, um bis zum Ende an den Aufstiegsplätzen zu schnuppern.

Aber im Fußball ist nun mal Potenzial das Eine - und die nackte, statistische Realität das Andere. Und wenn es nach dieser geht, liegt der HSV zwar immer noch in Reichweite der vorderen Plätze (zu Tabellenplatz zwei fehlen vier Punkte), aber eben auch nicht mehr, wie noch in den vorangegangenen Jahren, ganz vorne.

Wobei man ketzerisch fragen könnte: was haben uns all die Spitzen-Platzierungen in den letzten drei Jahren denn gebracht? Am Ende lagen die Rothosen mit unschöner Regelmäßigkeit auf jenem ominösen vierten Platz, der eben nicht zum Aufstieg berechtigt.

Und abgerechnet wird natürlich auch in dieser Saison erst am Schluss. Und ich sehe wirklich nicht, warum es nicht klappen sollte. Es ist ja nicht so, dass die Truppe allwöchentlich spielerische Offenbarungseide ablegt. Oder von den meisten Rivalen in Grund und Boden gespielt wird.

Das Gegenteil ist der Fall: die meisten Partien dominiert die Walter-Elf ihre Gegner. Durchschnittlich liegt der Ballbesitztanteil bei über 60 Prozent. Auch Chancen werden sich regelmäßig herausgearbeitet.

Nur leider noch zu selten verwertet. Und wenn dann noch die ein oder zwei fast obligatorischen Fehler in der Defensive hinzukommen - ja, dann enden die Partien halt auch mal nur unentschieden.

Robin Meissner
Auch er vergab gegen Fortuna aus aussichtsreicher Position: Robin Meissner / Martin Rose/GettyImages

"Mein Anspruch ist auch, jedes Spiel zu gewinnen!"

Doch lassen wir Walter selbst zu Wort kommen. "Man muss den an uns herangetragenen Anspruch und die Wirklichkeit sehen. Mein Anspruch ist auch, jedes Spiel zu gewinnen. Das ist auch der Anspruch des Umfeldes, der ganzen Stadt. Trotzdem müssen wir abwägen: können wir eigentlich schon so weit sein?" (via sportbild.de)

Aktuell beantworten die reinen Ergebnisse diese Frage mit einem Nein. "Man muss sehen:", so Walter weiter, "was für Spieler habe ich im Kader? Wo kommen sie her? Welche Erfahrung haben sie?"

Ein subtiler Hinweis in Richtung sportlicher Führung, nicht die gewünschten Spieler bekommen zu haben? Walter dürfte Realist genug sein, um hier zu widersprechen. Denn auch er weiß um die finanziellen Rahmenbedingungen des Klubs, die keine großen Sprünge auf dem Transfermarkt erlaubten.

Und so argumentiert der Übungsleiter denn auch lieber mit dem Faktor Zeit. "Den Jungs die Spielidee komplett zu vermitteln, ihr Potenzial zu entfalten, ältere und ganz junge Spieler zusammenzuführen, das braucht eine gewisse Zeit, um es so ins Laufen zu bekommen, dass wir sagen: Jetzt gewinnen wir jedes Spiel!"

"Ich bin überzeugt, dass es Schritt für Schritt besser wird!"

"Denn das", so Walters zart durchschimmernde Kritik am ungeduldigen Umfeld des Klubs, "scheint die Erwartung an den HSV zu sein. Für die Zeit, die wir jetzt zusammen sind, läuft es gut, aber wir wollen natürlich mehr. Und ich bin überzeugt, dass es Schritt für Schritt besser wird."

Vielleicht ja sogar am Freitag (18.30 Uhr) beim selbsternannten Aufstiegsaspiranten SC Paderborn. Wo der HSV im letzten Jahr in einem spektakulären Spiel mit 4:3 gewinnen konnte, im ersten Zweitligajahr allerdings auch mit 1:4 unter die Räder kam.

Vom in diesem Sommer nochmals forcierten Weg, mit externen Talenten (wie Doyle, Vuskovic oder Kaufmann), eigenen Nachwuchsleuten (Ambrosius, David, Alidou, Meissner) und gestandenen Spielern (Leibold, Heyer, Schonlau, Meffert, Glatzel) zu operieren, will Walter jedenfalls nicht abgehen.

Faride Alidou
Legte gegen die Fortuna einen frechen Auftritt hin: Faride Alidou / Martin Rose/GettyImages

"Wir wollen ausbilden, aber trotzdem erfolgreich sein." Diesen Spagat will er mit seinem Konzept, einer Variante des holländischen voetbal total der 70er-Jahre, hinkriegen. Und er wehrt sich gegen Vorwürfe, wie jüngst von Sky-Kommentator Peter Neururer vorgetragen, der beim Spiel gegen die Fortuna anmerkte: "So langsam müssen sie eine fußballerische Linie haben."

"Der Weg ist klar vorgegeben!"

Walter dazu: "Das ärgert mich. Weil die klare Linie sichtbar ist. Wir spielen mutig und offensiv, haben 70 Prozent Ballbesitz, wir spielen uns Torchancen heraus. Wir bespielen die gegnerischen Mannschaften mit einem klaren Plan. Natürlich ist man über 90 Minuten nicht konterfrei. Aber der Weg ist klar vorgegeben."

Fehlt jetzt nur noch, dass die Mannschaft diesen Weg endlich auch mal vollumfänglich, über 90 Minuten und sowohl in der Offensive wie auch in der Defensive, beschreitet. Dann hinterfragt irgendwann auch keiner mehr das zu Grunde liegende System.