"One-Love-Rückzieher: Ich wäre abgereist" - Die WM-Kolumne von Nadine Angerer

Nadine "Natze" Angerer
Nadine "Natze" Angerer /
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Nadine Angerer analysiert für 90min die Weltmeisterschaft in Katar. In ihrer ersten Kolumne blickt die zweifache Weltmeisterin auf das Eröffnungsspiel zurück und wagt eine Einschätzung zu den deutschen Titelchancen. Auch zum Verzicht auf die One-Love-Kapitänsbinde hat die ehemalige Nationaltorhüterin eine klare Meinung.


Da ist sie nun, die ungeliebte WM in Katar. Niemand wollte, dass das Turnier in einem Land stattfindet, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten, Frauen und sexuelle Minderheiten diskriminiert werden und Gastarbeiter unter unwürdigen Bedingungen zu Tode kommen. Trotzdem haben sich Gier, Korruption und die FIFA durchgesetzt.

Dass "die beste WM aller Zeiten" (Gianni Infantino) auch deshalb eine Farce ist, weil es im Gastgeberland keine Fußballkultur gibt, hat das Eröffnungsspiel deutlich gemacht. Halbleere Ränge, weil viele Zuschauer schon vor dem Pausenpfiff das Interesse verlieren und nach Hause gehen - schlimmer hätte es kaum kommen können. Passend dazu ließ der Turnierauftakt auch sportlich zu wünschen übrig. Ecuador genügte eine durchschnittliche Leistung, um limitierte Katarer in Schach zu halten und glanzlos drei Punkte einzufahren. Hoffen wir, dass die kommenden Spiele mehr Begeisterung entfachen als dieses biedere 2:0.

Die Spieler tun mir leid

Deutschland kann dazu beitragen, dass das Turnier zumindest fußballtechnisch einige Highlights setzt. Die Mannschaft bringt sowohl in der Spitze als auch in der Breite hohe Qualität mit und hat in Hansi Flick einen hervorragenden Trainer, der beim FC Bayern nicht ohne Grund großartige Erfolge eingefahren hat. Umso mehr tut es mir für die Spieler leid, dass dieses für viele einmalige Karriere-Erlebnis von den politischen Begleitumständen überschattet wird. Wenn es mit dem WM-Titel klappen soll, dürfen sich Joshua Kimmich und Co. von den Themen abseits des Platzes nicht zu sehr beeinflussen lassen.

Noch viel entscheidender wird es jedoch sein, den richtigen Teamgeist zu entwickeln. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ein Turnier nicht von der ersten Elf, sondern auf den hinteren Kaderpositionen gewonnen wird. Jeder Spieler muss seine Rolle kennen und annehmen, wenn es am Ende zum großen Wurf reichen soll. Ein Sieg zum Auftakt gegen Japan, das auf keinen Fall zu unterschätzen ist, wäre ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg in Richtung Finaltraum. Bei einem Unentschieden oder gar einer Niederlage könnte es angesichts von nur drei Gruppenspielen schnell ungemütlich werden.

Obwohl neben Deutschland zahlreiche Nationen wie Titelverteidiger Frankreich, England oder Brasilien das Zeug zum Titel haben, glaube ich persönlich an einen Überraschungs-Weltmeister. Wer das genau sein könnte, will ich nicht prognostizieren. Mein Gefühl sagt mir aber, dass wir uns am Ende des Turniers die Augen reiben werden.

One-Love-Kapitänsbinde: Eine Charakterfrage

Sehr enttäuscht war ich davon, dass der DFB und Manuel Neuer vor der FIFA eingeknickt sind und die One-Love-Kapitänsbinde nun doch nicht tragen wollen. Dabei war das One-Love-Design ohnehin bereits eine nicht besonders mutige Kompromisslösung, um einem Konflikt wegen der Regenbogen-Pride-Farben aus dem Weg zu gehen. Die Verbände hätten hier ein klares Zeichen für ihre allzu häufig beschworenen Werte setzen können.

Stattdessen beweisen Manuel Neuer und die Verantwortlichen, dass sie ihre Überzeugungen schnell über Bord werfen, sobald es brenzlig wird. Dass sich die FIFA gegen die Aktion wehrt, dürfte doch niemanden überrascht haben. Natürlich ist es aus der Ferne schwer zu beurteilen, welche Sanktionen der Weltverband hinter den Kulissen angedroht hat. Fest steht auch, dass die Spieler ihre großen sportlichen Ambitionen nicht gefährden wollen. Mit aller gebotenen Vorsicht glaube ich trotzdem: Ich persönlich hätte in dieser Situation anders reagiert und wäre lieber abgereist, als mich selbst zu verleugnen.


Nadine Angerer (44) lief in ihrer Karriere 146 Mal für die deutsche Nationalmannschaft auf und gewann 2003 und 2007 den WM-Titel. Darüber hinaus wurde sie in ihrer Karriere fünf Mal Europameisterin und erhielt 2013 die Auszeichnung als Weltfußballerin und als Europas Fußballerin des Jahres. Heute arbeitet die zweimalige Deutsche Meisterin als Director of Goalkeeping bei den Portland Thorns in der US-amerikanischen National Women's Soccer League (NWSL).


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