Nicht schon wieder, HSV!
Von Marcel Stummeyer
Verwundert rieb ich mir am gestrigen Montagabend um 22:30 die Augen. Ist das gerade wirklich passiert? Schon wieder? Der HSV ist auf bestem Wege, den Aufstieg zu verspielen - auch auf den Schultern seiner Fans. Der Aufstieg wird immer mehr zu einer Frage der Einstellung und vor allem der letzten, alles entscheidenden Sekunden. Der HSV und das Rennen gegen die Zeit.
Ich weiß: Einige von euch werden genervt eine weiteren Leidens-Text lesen, der am Ende zu nichts führt und auch die Misere des HSV nicht verschwinden lässt, aber auch ich möchte meinen Senf dazugeben:
In den letzten Wochen verspielte der HSV ganze fünf Punkte in den letzten Sekunden. Fünf Zähler, die dem Konto der Rothosen gut zu Gesicht stehen würden, vor allem in der aktuellen Situation.
Das Erschreckende: Spiel für Spiel ähneln sich die letzten Spielminuten. Dem HSV geht zum Ende einer Begegnung sichtlich die Flatter und das Team schafft es nicht, einen Sieg über die Zeit zu bringen. Das Ziel Bundesliga rückt in immer weitere Ferne.
Ich war wohl nicht der einzige, der überlegte, die verlockende Quote einiger Wettanbieter zu nutzen und auf ein Gegentor in den letzten Sekunden zu tippen - ich glaubte aber an meine Mannschaft. Sie werden aus den letzten Wochen doch wohl gelernt haben, oder nicht?
Das Anrennen der Kieler nahm kein Ende. Nach einem fraglichen Freistoß folgte eine Ecken-Orgie, die Böses erahnen ließ. Bei jeder Flanke musste ich die Augen schließen, ich hörte den Ball schon im Tornetz einschlagen, aber nein - der HSV schaffte es die Ecken abzuwehren. Aber dann brach die letzte Minute an und es kam, wie es kommen musste!
Schiri, pfeif ab!
Die letzte Minute der Nachspielzeit brach an. Noch immer schaffte es der HSV nicht, sich zu entlasten. Ich bettelte den Schiedsrichter an - bitte, pfeif ab! Aber wie schon über die komplette Spielzeit verteilt, wusste der angesetzte "Chef des Rasens" nicht, wann er seine Pfeife benutzen sollte und wann eher nicht.
Zugegeben: Die Nachspielzeit ließ der Referee korrekt ablaufen. Und dann kam dieser eine Ball, der irgendwie zum Kieler Stürmer Lee gelangte und aus abseitsverdächtiger Position im linken Toreck verschwand. Ein unglaublich lauter Jubelschrei übertönte die gespenstische Leere in der HSV-Seele - Stuttgarter, Heidenheimer, Bielefelder, und Kieler freuten sich gleichermaßen, dass die Hamburger die Ausrutscher der Konkurrenz erneut nicht für sich nutzen konnten.
Der Schmerz des Last-Minute-Punktverlustes - er scheint chronisch zu werden. Und egal, ob das 3:3 nun Abseits war oder nicht - als Spitzenmannschaft darf man sich nicht so unter Druck setzen lassen. Das Pressing der Kieler überforderte den HSV sichtlich, ein absolutes Unding.
Wer möchte hier eigentlich aufsteigen?
"An der Elbe werden Träume wahr - hier weiß jedes Kind, dass wir Champions sind" - eine Zeile der HSV-Hymne, die momentan abwegiger nicht sein könnte. Im Volkspark drohen Träume zu platzen - mal wieder. Schon in der letzten Saison brachen die Hanseaten in der Rückrunde komplett ein und verpassten somit den sicher geglaubten direkten Wiederaufstieg. Als Herbstmeister erreichte man am Ende nur Platz 4. Auch in der aktuellen Spielzeit scheint die Gefahr groß, dass der Hamburger Sport-Verein an sich selbst scheitert und den ersehnten Sprung zurück ins Oberhaus verpasst.
Im Jahr 1887 gegründet, begleitet den HSV eine riesige Tradition. Es wurden Siege gefeiert und Titel gewonnen. Allein vom Umfeld, der Stadt, der Infrastruktur und dem Spielermaterial müsste der HSV souverän an der Spitze der 2. Bundesliga thronen. Die Gegner der Hamburger sind unscheinbar und auf dem Papier klar unterlegen. Trotzdem schaffen es die kleinen Mannschaften regelmäßig, dem "großen HSV" ein Bein zu stellen.
Wer dachte, dass zwei Derbypleiten binnen einer Saison nicht schlimmer sein können, der hat den Saison-Endspurt außer Acht gelassen. Vom unbedingten Willen aufsteigen zu wollen, ist in der Hansestadt keine Spur. Oder sehe das nur ich so?
Woran liegt es eigentlich?
"Kann ja mal passieren" - diesen Satz hörte man in den letzten Wochen regelmäßig in HSV-Kreisen.
Eigentlich ist dieser Satz auch nicht verwerflich, denn der Fußballsport ist spektakulär, unglaublich und manchmal auch nicht fair. Wir lieben diesen Sport, gerade weil Dinge passieren, an die man sich sein ganzes Leben erinnern wird. Als HSV Fan könnte man meinen, dass man leidenserprobt ist - doch trotzdem kommt es immer schlimmer, als man denkt.
Was sind die Gründe? Natürlich rein spekulativ. Die Qualität des Kaders ist praktisch überragend - selbst die Auswechselspieler würden bei nahezu jedem Zweitligaklub in der Startelf stehen, vom überdurchschnittlichen Etat des Klubs ganz zu schweigen.
Trainer, Sportvorstand, Management - die Positionen könnten augenscheinlich nicht besser besetzt sein. Liegt es am Druck, unbedingt aufsteigen zu müssen? Liegt es an den Wechseln, die im gestrigen Spiel für einen spürbaren Knick gesorgt haben? Die Regelmäßigkeit der Patzer und die selten bestimmende Spielweise der Hamburgerin der entscheidenden Phase eines Spiels lässt die Sorgenfalten auf jeden Fall wachsen.
Natürlich glaube ich an meine Mannschaft und ich bin von einem Aufstieg noch immer überzeugt - dass aber auch der optimistischste Anhänger der Rautenträger nun langsam ins Grübeln kommt, ist nicht von der Hand zu weisen.
Netzreaktionen pur - auf den HSV ist (leider) Verlass!
Ganz vorsichtig lachte ich mir ins Fäustchen, als ich sah, dass sowohl Bielefeld, als auch Stuttgart und Heidenheim nicht gewinnen konnten. Nun müsste der HSV die Vorlage doch endlich mal nutzen?
Aber Pustekuchen. Nachrichten von schadenfrohen Bekannten, die sich jahrelang nicht meldeten, sich aber plötzlich zu Fußball-Experten entwickelten, mussten nicht lange auf sich warten. Und auch das Netz feierte mal wieder die coronafreundliche HSV-Gaudi.
Der erneute Knockout in letzter Sekunde stimmt die Fans fassungslos - wen wundert es? Holstein Kiel war nicht der erste Verein, der dem HSV sicher geglaubte Punkte stibitzt hat.
Auch an der Schiedsrichter-Leistung lassen einige Anhänger kein gutes Haar - dem Referee darf man aber nicht die Hauptschuld am Versagen geben, das wäre nämlich viel zu einfach.
Harte Abrechnung - ist der HSV so aufstiegsreif?
In Stuttgart knallten die Korken - durch den Ausgleich halten die Schwaben Platz 2 und damit den direkten Aufstiegsplatz.
Ruhige Zeiten? Nicht in der Hansestadt Hamburg - seit Jahren befindet sich der HSV in wilden Gefilden und liefert immer wieder Gründe für Hohn und Spott.
Bittere Prognose, die sich aber immer mehr verdichtet und die definitiv die größtmögliche Erniedrigung sein würde. Dieses Szenario würde den HSV wohl endgültig brechen - im Volkspark wird man wohl alles dafür tun (hoffentlich), die Relegation zu umgehen - dafür braucht es in den vier verbleibenden Spielen aber Punkte - möglichst 12!
Leistungstechnisch hätte es momentan weder der HSV, noch der VfB Stuttgart verdient, aufzusteigen. Platz 2 bleibt aber für beide Vereine das große Ziel, denn am Aufstieg hängt mehr als nur das Überleben der Klubs.
Nun, wie ergeht es einem HSV Fan dieser Tage? Schmerzlich wird das Stadion vermisst, aber die Ergebnisse hemmen die Sehnsucht nach dem Volkspark dann doch. Auch nach der Corona-Pause konnte sich die Mannschaft von Trainer Hecking nicht ordnen. Defensiv anfällig und offensiv teilweise schlampig - diese Hamburger Mannschaft ist nichts für schwache Nerven.
Die restlichen vier Spiele bestreitet der Hamburger SV in Dresden, gegen Osnabrück, in Heidenheim und am letzten Spieltag gegen Sandhausen. Auf dem Papier machbare Aufgaben, aber eben nur auf dem Papier. Dem Dusel-HSV stehen unruhige Wochen bevor. Um Platz zwei zu erreichen ist man auf das Scheitern des VfB angewiesen, eine extrem unglückliche Situation.
Aber der HSV wäre nicht der HSV, wenn Wunder nicht möglich wären. Ja, den direkten Aufstieg bezeichne ich momentan als Wunder, aber Wunder sind schön und auch ich möchte am 28. Juni etwas zu feiern haben!, nämlich den direkten Aufstieg meines HSV in die Bundesliga und den Abstieg der Grün-Weißen von der Weser!