Nach der Vorrunde: Die großen Mysterien der bisherigen EURO2020
Von Guido Müller
Die (ersten) Würfel sind gefallen, die Vorrundenspiele der EURO2020 gespielt - und ab kommenden Samstag wird die 16. Fußball-Europameisterschaft in ihre entscheidende Phase gehen. Wir blicken noch einmal zurück auf die bisherigen knapp zwei Wochen Euro-Fußball - und auf Mysterien, die bislang noch ohne Erklärung geblieben sind.
Türkei: Vom Geheimfavoriten zur größten Enttäuschung des Turniers
Als ich im Vorfeld dieser Europameisterschaft die Kader der 24 teilnehmenden Nationen unter die Lupe nahm, bekam ich beim Studium der türkischen Auswahl ein beinahe täglich stärkeres Gefühl, über eine der möglichen großen positiven Überraschungen des Turniers zu schreiben.
In Torwart Ugurcan Cakir (Trabzonspor), den Innenverteidigern Merih Demiral (Juventus Turin) und Caglar Söyüncü (Leicester City), den Mittelfeldspielern Hakan Calhanoglu (AC Mailand) und Cengiz Ünder (Leicester City) sowie Mittelstürmer Baruk Yilmaz (OSC Lille) verfügten die Türken eigentlich über eine sehr starke Grundachse, die zum Träumen einlud.
Hinzu gesellten sich hierzulande bestens bekannte solide Mitspieler mit Bundesligaformat wie Kenan Karaman von Fortuna Düsseldorf oder der frühere Schalker Ozan Kabak (FC Liverpool).
Um so enttäuschender verlief dann jedoch die Gruppenphase. Einem uninspirierten Auftritt zum Auftakt gegen Italien (0:3) folgte eine ähnlich schwache Darbietung gegen Wales (0:2), bevor dann zum Abschluss der Gruppe A selbst die reisegeschwächten Schweizer keine Probleme hatten, den Türken drei Tore einzuschenken (1:3).
Am Ende standen null Punkte (neben Nordmazedonien ist die Türkei damit das einzige Land, dass keinen Zähler holen konnte) und 1:8 Tore - und der wenig schmeichelhafte Titel "Enttäuschung des Turniers".
Kilometerfresser Schweiz trotzt den Reisestrapazen - und lässt drei andere Gruppendritten hinter sich
Abgesehen davon, dass die Idee einer paneuropäischen Europameisterschaft wirklich charmant ist, gab es bedingt durch die weltweite Corona-Pandemie (die Redundanz sei in diesem Fall der Dramatik wegen erlaubt) natürlich auch berechtigte Kritik an ihrer Durchführung.
Neben epidemiologischen Gründen (die zum Zeitpunkt der Entscheidung, das Turnier über den gesamten Kontinent zu verteilen, noch gar nicht zur Debatte standen!), wurden auch immer wieder die unterschiedlichen Belastungen der Teams durch europaüberspannende Reisen angeführt.
Vor allem die Schweiz hatte ein enormes Pensum zu bewältigen. Vom Ausgangslager in Zürich ging es zunächst nach Baku in Aserbaidschan, wo der erste Gegner Wales wartete. Von Baku ging es dann nach Rom, um sich mit Italien zu messen, und von dort wieder zurück nach Baku, wo die Türkei am letzten Spieltag eigentlich "Heimvorteil" genoss.
Doch die Eidgenossen trotzten all diesen Widrigkeiten, schlugen die Türken überraschend klar und deutlich mit 3:1 - und bestätigten wieder einmal das Bonmot demzufolge immer da ein Weg ist, wo auch ein Wille ist.
Mit vier Punkten in der Endabrechnung der Gruppe A ließen die Schweizer am Ende sogar noch drei andere Gruppendritte (Finnland, Ukraine und Slowakei) hinter sich - und dürfen sich nun auf ein Kräftemessen mit Weltmeister Frankreich freuen.
Wo ist Jadon Sancho geblieben?
Schon am ersten Spieltag der Gruppe D, im vermeintlichen Spitzenspiel zwischen Turnier-Mitfavorit England und Vizeweltmeister Kroatien, rieben sich hierzulande viele Fans (nicht nur des BVB) verwundert die Augen: Jadon Sancho nicht einmal im englischen Kader?
Eine Erklärung lieferten die Verantwortlichen der Three Lions für diese Entscheidung nicht. Im zweiten Spiel der Engländer fehlte Sancho erneut in der Startelf, stand diesmal aber wenigstens im Kader. Doch Spielminuten (ganze sechs an der Zahl!) durfte er erst im nahezu bedeutungslosen Spiel gegen die Tschechen sammeln.
Und weiterhin gibt es keine offizielle Erklärung aus dem englischen Lager dafür. Was natürlich Spekulationen aufkochen lässt, dass es sich womöglich um eine disziplinarische Maßnahme seitens Gareth Southgates handeln könnte.
Die bisherige Absenz Sanchos überrascht unter den bislang ärmlichen spielerischen Eindrücken der Mannschaft umso mehr. Aber vielleicht steckt ja auch ein ausgeklügelter Plan des Nationaltrainers dahinter.
Im Achtelfinale, dem ewig jungen Klassiker gegen Deutschland am kommenden Dienstag (18.00 Uhr) , könnte für Sancho die EURO2020 so richtig beginnen - wenn er denn spielt.
Die UEFA widerspricht sich selbst - und macht sich unglaubwürdig!
Seit Jahren fährt die UEFA eine (lobenswerte) Kampagne gegen Intoleranz und für Vielfalt und Respekt. Um so bedauerlicher, dass sie ihren blumigen und in zahlreichen Spots gebannten Worten keine entsprechenden Taten folgen lässt.
Die Beleuchtung der Allianz-Arena zu München in Regenbogenfarben zuzulassen, als Zeichen gegen Homophobie und die Ausgrenzung von Minderheiten, wäre ein solcher Schritt zur Glaubwürdigkeit gewesen.
Doch der europäische Fußballverband hat das entsprechende Ansinnen der Stadt München abgelehnt - und damit seinen eigenen Kampf gegen Engstirnigkeit konterkariert.
Von Heimvorteil bei den Engländern nichts zu sehen
Kein anderes Team bei dieser Europameisterschaft ist so vom Heimvorteil begünstigt wie die Engländer. Um so mehr müssen die bisherigen Auftritte der Three Lions alle Fußball-Liebhaber entsetzen.
Einem mit allen Mitteln verteidigten dürren 1:0 gegen Kroatien zum Auftakt folgte ein fußballerischer Offenbarungseid gegen die international eher zweitklassigen Schotten. Die jedoch warfen im "Battle of Britain" alle ihre abseits fußballerischer Perfektion liegenden Stärken ein - und verdienten sich das 0:0 weit mehr als ihre großen Nachbarn.
Doch nun könnte sich der Heimvorteil der Engländer in eine Verlängerung ihres deutschen Wembley-Traumas verwandeln.
Denn ob nun altes oder neues Wembley - Deutschland hat in beiden Arenen seine Duftnote hinterlassen. Den letzten Vergleich vor dem Umbau (Oktober 2000) gewann die DFB-Elf ebenso wie die Premier im New Wembley (August 2007).
Da braucht man als deutscher Fan noch nicht einmal mehr das Halbfinale der EURO 1996 bemühen...na, ihr Engländer, schon Muffensausen wegen Dienstag?
Wen wollte Roman Zobnin bloß anspielen?
Mit einem einzigen Pass eine ganze Abwehr aus den Angeln zu heben, ist der Traum eines jeden Fußballers. Dem Russen Roman Zobnin gelang dies im letzten Gruppenspiel der Sbornaja gegen ein wegen des Eriksen-Vorfalls völlig emotionalisiertes Dänemark.
Nur war es leider nicht die dänische Defensive, die der 27-jährige Mittelfeldspieler von Spartak Moskau auseinanderriss und entblößte, sondern seine eigene. Was ihn zu seinem spektakulären und maßgerechten Fehlpass auf Poulsen verleitet haben könnte, wird wohl auch lange nach dieser Europameisterschaft noch ein Mysterium bleiben.
War Martin Dubravka mal Volleyballspieler?
Zugegeben: der Ball hatte einen fiesen Drall, wie man in der Fußballersprache sagt. Fast senkrecht fallend fiel das runde Leder nach einem Lattentreffer zurück in Richtung slowakisches Tor.
Da stand mit dem 1,91 Meter großen Dubravka auch wahrlich kein kleinwüchsiger Mensch im Tor. Ein Sprung, ein Tip über die Latte - und die ganze Szene wäre beendet gewesen. Doch Dubravka schien das Leder in bester Volleyball-Manier blocken zu wollen. Leider unterhalb und nicht oberhalb des Querbalkens.
Und so schlug sich der Keeper von Newcastle United den Ball selbst ins Tor - und brachte die Spanier damit auf die Siegerstraße.
Zu seiner Ehrenrettung sei gesagt, dass ausgerechnet am Ort des Geschehens die letzten Sonnenstrahlen vom andalusischen Sommerhimmel auf ihn strahlten - und ihn wohl auch blendeten. Mindestens unglücklich sah die ganze gescheiterte Rettungsaktion dennoch aus.
Was ist mit Leroy Sané los?
Seine Kritiker werden sich bestätigt sehen, während seine Verteidiger wohl immer mehr darüber rätseln, warum Leroy Sané aus einem eigentlich vielversprechenden Gesamtpaket (gute Technik, überragende Schnelligkeit, herausragende Schusstechnik) so wenig macht.
Exemplarisch kann man einen von ihm getretenen Eckball in der zweiten Halbzeit des gestrigen Krimis gegen Ungarn anführen. Und natürlich seinen völlig verrissenen Pass in der Nachspielzeit, als drei Deutsche auf die entblößte ungarische Abwehr zuliefen.
Man könnte auch die gefühlt hundert gescheiterten Dribblingsversuche, nicht angekommene Pässe oder die völlige Abwesenheit klarer Tormöglichkeiten von ihm benennen.
Vom Jungprofi des Jahres in England (2018) hat sich Sané jedenfalls in den letzten drei Jahren kontinuierlich zurückentwickelt und dieser dramatischen Abwärtsentwicklung auch nach seinem Wechsel zum FC Bayern im Sommer 2020 keinen Einhalt gebieten können.
Ein Hoffnungsschimmer bleibt indes: mit 25 Jahren ist Sané immer noch zu den jüngeren Spielern zu zählen. Vielleicht geht es ja schon ab der K.o-Runde wieder bergauf mit ihm.