Der (tiefe) Fall des Michaël Cuisance: Der Wahnsinn, den wir erschufen
Von Oscar Nolte
Michaël Cuisance hat seine Karriere - Stand jetzt - vor die Wand gefahren. Beim FC Bayern fehlt die Perspektive, wirklich empfehlen konnte sich der Franzose für andere Vereine auch nicht. Wie konnte es so weit kommen, dass dieser Ausnahmekicker so tief gefallen ist? Es ist der Wahnsinn, den wir erschaffen haben.
Erst drei Jahre ist es her, dass Michaël Cuisance bei Borussia Mönchengladbach zum Spieler der Saison gewählt wurde. Mit 17 Jahren kam der Mittelfeldspieler nach Deutschland zu den Fohlen, außergewöhnlich talentiert und im perfekten Umfeld, um sich gut zu entwickeln. Dann schaufelte sich der Youngster sein eigenes Grab, indem er mit der Borussia brach und zum FC Bayern wechselte.
Dort lockte Hasan Salihamidzic mit einem seiner Langzeitpläne, die - Stand jetzt - allesamt ins Nichts liefen; sei es der Fall Cuisance, Fiete Arp, Alexander Nübel oder Eigengewächse wie Adrian Fein. In Gladbach fehlte Cuisance eine Stammplatz-Garantie. Der Franzose wollte zu früh zu viel - und versuchte seine Ansprüche mit einer Dreistigkeit durchzusetzen, die ihn schließlich in die fußballerische Versenkung führte. Training mit offenen Schnürsenkeln, Bälle lustlos wegschlagend, um ganz Gladbach den Fußball madig zu machen und seinen Willen zu kriegen. Die Borussia öffnete schließlich die Tür und Cuisance wechselte nach München. Dort ist er nun im Niemandsland angekommen.
Immer schneller, immer höher: Cuisance ist ein Opfer dieser Dynamik
Bevor wir den Stab (erneut) über Cuisance brechen: der Junge war damals 18 Jahre alt. Wie konnte es soweit kommen, dass der Franzose damals den Bezug zur Realität scheinbar vollkommen verloren hatte? Woher kommen der Druck und die Ansprüche bei solch jungen Spielern? Nun, wir sind es, die diese Gesellschaft erschaffen.
Immer schneller, immer höher, immer besser: das ist die Dynamik, die wir in den sozialen Netzwerken, in unserem kapitalistischen System bedingt haben. Die Spieler, die damals 22 oder 23 Jahre alt waren, als sie den Schritt auf die große Bühne des Fußballs und der Öffentlichkeit wagten, sind heute 16 oder 17, manchmal sogar noch jünger. Da stehen diese Kids und werden mit Geld, Träumen und Erwartungen überhäuft, werden zu Marionetten derer gemacht, die an diesen Talenten verdienen wollen. Seien es Berater oder Trainer, Fans im Netz oder Mitspieler, die dir erzählen wollen, welchen Weg du zu beschreiten hast. Den einen Tag ganz oben, den nächsten von der Bildfläche verschwunden: immer schneller, immer jünger.
Diejenigen, die im Fußball das Sagen haben, bedienen diese Entwicklungen, in dem sie Mondpreise bezahlen, um diese Kids für sich zu gewinnen. Und es sind keine Menschen, die sie verpflichten und dann zu schützen vorzugeben, sondern Wertanlagen. Wer hält heute noch seine schützende Hand über den immer noch erst 21-jährigen Cuisance? Jetzt, da diese Anlage kaum noch etwas wert ist. Wir haben den Stab über diesen Jungen gebrochen und das ist es, was nun bleibt: ein Spieler, der seine Karriere an die Wand gefahren hat. Ein Mensch, über den wir unser Urteil gefällt haben.
Natürlich, Cuisance hat sich diese Suppe selbst eingebrockt. Sein Verhalten in Gladbach ist nicht zu entschuldigen, seine Entscheidung pro FC Bayern hat einen wahnhaften Charakter.
Doch es ist zu leicht, den Franzosen dafür abzukanzeln und in Vergessenheit geraten zu lassen. Der Fall Cuisance ist keine Seltenheit mehr und wir müssen damit beginnen, uns zu fragen, wie es so weit kommen kann. Wir müssen uns fragen, welchen Anteil wir an diesem Wahnsinn haben.
Im Fußball, wie auch in unserer Gesellschaft, gibt es kaum soziale Regulierungen, die Menschen in jungen Jahren vor den Erwartungen und dem Druck schützen. Es obliegt Individuen mit monetären Ansprüchen, für diese Kids zu sorgen. Und wir sind es, die unser Urteil sprechen, wenn es nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir alle machen Fehler, treffen falsche Entscheidungen - und lernen daraus. Diesen Maßstab müssen wir auch bei einem Michaël Cuisance anlegen.