Mehr Hühnerhaufen als DFB-Adler
- Bedenkliche Defensivarbeit des DFB-Teams
- Unverständliche Ausrichtung im Spielaufbau
- Fragwürdige Entscheidungen
Von Oliver Helbig
Die teils desaströsen Vorstellungen gegen die Türkei und Österreich haben zahlreiche DFB-Baustellen aufgedeckt oder bestätigt und sorgen gut ein halbes Jahr vor der Heim-EM 2024 für ordentlich Bauchschmerzen. Die Schönrederei im DFB-Labor muss nun endlich enden. Ein Kommentar.
War vielleicht nach den ersten Länderspielen unter Julian Nagelsmann noch ein Hauch von frischem Wind und Aufbruchstimmung zu spüren, ist die Luft spätestens nach dem hochverdienten 0:2-Nackenschlag in Österreich aber raus. Die Länderspielpause mit den Spielen gegen die Türkei und eben gegen die ÖFB-Auswahl hat deutlich gemacht, dass die Probleme unter Flick noch immer bestehen und vielleicht sogar in Teilen schlimmer geworden sind. Die DFB-Elf ist kein Team, zumindest auf dem Platz wird das nicht ersichtlich. Wie auch? Seit dem EM-Aus gegen England im Juni 2021 gibt es nur noch Experimente und nun steht man vor einem unstrukturierten Hühnerhaufen ohne Routine, Sicherheit und eingefleischter Spielidee.
Die Schönrederei und Versuchsfreudigkeit muss nun endlich enden. War man gegen die Türken manchmal und zumindest in einzelnen Phasen noch gefühlt auf Augenhöhe und konnte drei Torschüsse mehr in die Statistik verbuchen, so war die Überforderung gegen Österreich nicht mehr von der Hand zu weisen.
Wäre, wäre Fahrradkette
"Ich glaube, wir müssen das Spiel in den ersten zehn Minuten zumachen. Da waren wir richtig gut, wir hatten drei gute Chancen. Dann hätten wir, glaube ich, jetzt ein anderes Ergebnis", so Bundestrainer Julian Nagelsmann nach dem Spiel gegen die Türkei am RTL-Mikro.
Die optimistische Ansicht des Trainers in allen Ehren, aber Fakt ist auch, man hat es einfach nicht hinbekommen. "Wäre, wäre Fahrradkette", wenn man es in Lothar Matthäus' Worten sagen möchte. Die deutsche Nationalmannschaft war am Ende verdienter Verlierer gegen eine vermeintliche B-Elf der Gäste. Das kann und darf nicht der Anspruch einer derart großen Fußballnation wie Deutschland sein. Schon erst gar nicht vor einem großen Turnier im eigenen Land. Auch nicht gegen sich toll entwickelnde Österreicher.
Nicht nur gegen die Türkei und Österreich war der Auftritt der "Mannschaft" eher holprig. Auch gegen die USA und Mexiko offenbarte man schon eklatante Defensiv-Schwächen.
Erschreckend anfällig und unstrukturiert
Gegen Österreich um Trainer-Ikone Ralf Rangnick geriet man dann spielerisch vollkommen unter die Räder. Die Bilanz im Jahr 2023 ist erschreckend. In elf Länderspielen kassierte die DFB-Auswahl 22 Gegentore. Im Schnitt also zwei pro Partie. Lediglich gegen Peru blieb man ohne Gegentreffer. Während das deutsche Team gegen Österreich 57 Prozent Ballbesitz und über hundert mehr gespielte Pässe hatte, kamen die Gastgeber in Wien zu doppelt so vielen Torschüssen. Giftig, gallig, aktiv, gierig und effektiv. Das Umschaltspiel der Österreicher war zu jeder Zeit brandgefährlich. 14 abgefangene Bälle zerstörten den Spielvortrag des DFB-Teams und führten zu zahlreichen Kontern.
Die Abstände zwischen den Ketten waren vorne wie hinten massiv und nicht akzeptabel. Die Abstände zwischen den Spielern vielleicht sogar verantwortungslos groß. Im Spielaufbau ließ man sich viel zu leicht unter Druck setzen und war ein ums andere Mal zu gewagten Pässen auf die weit entfernten Vorderleute gezwungen. So flog der deutschen Abwehr eine Kontersituation nach der nächsten um die Ohren und raubte jedem deutschen Nationalspieler zunehmend die Sicherheit.
Verteidigung beginnt aber auch nicht erst in der Abwehrkette. Neben den Ballverlusten im Aufbau schossen auch Fragezeichen in den Kopf, wenn Leroy Sané immer wieder als einziger den Aufbau in der österreichischen Kette anlief, während der Rest statisch erwartete, was wohl als Nächstes passiere. Österreich umspielte den verzweifelt anlaufenden Sané leicht und öffnete immer wieder gekonnt durch die Überlagerung einer Zone mit anschließender Verlagerung auf die offene Feldseite. Dass ein mit derart großen Namen gespicktes Team wie das deutsche, dem so hilflos gegenüberstand, ist bedenklich.
Nagelsmann-Aussagen verwundern
Bedenklich finde ich auch die Aussage des Bundestrainers nach Abpfiff: "Wir werden bis Sommer nicht zu Verteidigungsmonstern. Wir müssen die Zeit, in der wir verteidigen, minimieren. Die Mannschaft hat eine Gabe, schön zu spielen. Aber wir müssen viel mehr Dynamik entwickeln im eigenen Ballbesitz. Wir sind eine gute Gruppe und beim Überschreiten der Linie sind es Einzelkämpfer. Es sind super viele gute Zeichen, aber den Transfer aufs Feld kriegen wir nicht gut hin."
Aber gut, was will der Trainer auch vor den Medien anderes sagen? Jedes Wort ist eines zu viel und wird sowieso anders ausgelegt als es womöglich gemeint war.
Herr Nagelsmann, bitte verzeihen Sie mir dennoch, dass ich mir als kleiner Amateur-Trainer im ambitionierten Jugendfußball herausnehme, mich überhaupt zu Ihrer Arbeit zu äußern. Ich stelle mir aber schon die Frage, ob die gesunde Basis des Erfolgs nicht grundsätzlich aus einer in sich stabilen Defensive liegt, auf der ein kontrollierter Spielvortrag dann durchgeführt wird? Liege ich falsch, wenn man eine eh schon wahnsinnig verunsicherte Defensivleistung einer gesamten Mannschaft aufs äußerste strapaziert, indem man das Heil in der Flucht nach vorne sucht? Indem man vorwiegend damit verteidigen möchte, den Ball nicht hergeben zu wollen? Und ist dann nicht die Zeit des Umdenkens gekommen, wenn dieser Plan mehrfach bereits an den ersten drei Pässen im Aufbaudrittel scheitert?
Erfolgreiches Beispielmaterial vorhanden
Erinnern wir uns und gehen ein Jahr zurück. Bayer Leverkusen war in einem nahezu ähnlichen Zustand. Extrem anfällig und überfordert im Verteidigen, während man weiterhin versuchte, es durch die Offensive auszugleichen. Gerardo Seoane scheiterte und Xabi Alonso kam. Natürlich steht dieser mit seiner Mannschaft aktuell auch aufgrund einer unfassbar attraktiven Offensive dort, wo er jetzt steht, aber die ersten Schritte des Spaniers waren bei Amtsantritt für eine defensive Stabilität zu sorgen, die später einen kontrollierten Aufbau ermöglichte.
Alonso baute das Team Stück für Stück auf. Etage für Etage, wenn man so will. Natürlich hat er als Vereinstrainer deutlich mehr Zeit für so etwas, aber wäre nicht genau deshalb angebracht, dass die extrem begrenzte Zeit bis zur EM dazu genutzt würde, von hinten anzufangen? Man steigt in eine neue Hose ja auch nicht über die Hosenbeine ein. Mir ist bewusst, dass der Bundestrainer besonders für eines steht: attraktiven Offensivfußball. Nur ist es keineswegs hilfreich oder zielführend, sich darauf zu reduzieren. Vor allem nicht, wenn die Probleme bereits seit langem bekannt sind.
Warum schaut man sich bei beispielsweise Alonso nicht ein bisschen mehr davon ab, wie er auf den erfolgreichen Weg der Gegenwart kam und was ihn ausmacht? Stabile Defensive, Überlagerung des Zentrums durch spiel- und passstarke Mittelfeld-Akteure mit der Verlagerung auf die Flügel, um hinter die Ketten der Gegner zu kommen und den Zielspieler im Zentrum zu finden. All das haben wir doch im DFB-Kader?! Ein zentrales Mittelfeld mit Spielern wie Kimmich, Gündogan, Goretzka, Brandt, Wirtz, Musiala und wie sie alle heißen, sollte man intensiver als Ballmagnet, Verteiler und Schaltzentrale in ihren Stärken nutzen, um dann zum Beispiel über einen Sané das Spiel in den gegnerischen Strafraum zu tragen, wo ein Füllkrug weiß, wo das Tor steht.
Warum krampfhaft einen Havertz als Linksverteidiger einsetzen, der doch hinter und mit Füllkrug in der Box deutlich besser aufgehoben wäre? Warum nicht abkommen vom weit vorne vorgetragenen breiten Aufbau, wenn man aktuell vielleicht mit einer tiefer stehenden Abwehrkette sicherer fährt? Warum nicht die Passabstände verringern, um das Risiko für Fehlpässe zu mindern und die Wege gegen den Ball bei Ballverlust kurz zu halten, um besser ins Gegenpressing zu kommen? Warum nicht erstmal einfach und geradlinig statt hauruck anspruchsvoll, besonders?
Kimmich: Teil der Lösung oder des Problems?
Ein weiterer Punkt, der mir nicht in den Kopf will, ist, warum sich zum einen ein Joshua Kimmich derart wehrt, als Rechtsverteidiger aufzulaufen und warum ihm niemand erklärt, dass man ihn dort am meisten bräuchte? Es mag sein, dass er ein herausragender zentraler Mittelfeldspieler ist, aber davon haben wir in Deutschland mehr als einen. Auf den Außenverteidiger-Positionen hingegen finden wir seit dem Karriereende von Philipp Lahm gefühlt überhaupt nicht mehr statt. Warum stellt man dann die eigenen Ansprüche nicht zurück und nimmt die Rolle ein, die am dringendsten gebraucht wird?
Warum muss man so derart am eigenen Ego klammern und scheinbar die Augen vor der Realität verschließen? Zumal die Auslegung der Außenverteidigerrolle eh schon eine starke Entwicklung nahm und Kimmich entgegenkommen würde. Man muss nur auf Kyle Walker oder Oleksandr Zinchenko blicken und wie sie ihren Job interpretieren. Man muss sich ebenfalls womöglich intensiver mit der Frage auseinandersetzen, ob Joshua Kimmich Teil des Problems oder Teil der Lösung sein möchte. Ich halte ihn für einen Weltklasse-Fußballer, jedoch finde ich auch, dass er sich vielleicht wieder mehr unterordnen und mannschaftsdienlicher werden müsste. Ich hoffe für die EM 2024 auf die Selbsterkenntnis und Einsicht Kimmichs. Wir bräuchten ihn dort mehr, als er sich vielleicht selber vorstellen kann.
Natürlich reihe ich mich jetzt in die Liste der Millionen Couch-Bundestrainer ein und bin viel zu weit weg von den Überlegungen Nagelsmanns, als dass mir ein solches Urteil zustünde. Dennoch mangelt es teilweise an Punkten, die mir selbst in meiner täglichen Arbeit als Trainer um die Ohren fliegen und mit denen ich öfter als mir lieb ist konfrontiert bin. Umso verwunderlicher scheint es mir daher auch, dass eine große Anzahl an Beteiligten stumpf an Ideen und Ausreden festzuhalten und nicht bereit zu sein scheint, einen Schritt zurückzugehen. Zurück zu den Grundlagen. Ein Neuanfang mit gesundem fußballerischem Fundament. Man könnte es ja nach außen hin als "Anlauf nehmen" verkaufen, wenn der "Schritt zurück" nicht revolutionär genug klingt.
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