Mehr als ein One-Hit-Wonder - Der Stuttgarter Höhenflug wird weitergehen
Von Oliver Helbig
Der VfB Stuttgart hat in der vergangenen Saison ein wahres Fußballmärchen erlebt - war man in den beiden Spielzeiten zuvor nur knapp dem Abstieg von der Schippe gesprungen. Seit der Saison 2010/11 hatte der VfB gar nur viermal einen einstelligen Tabellenplatz in der Bundesliga erreicht und musste in den Spielzeiten 2016/17 und 2019/20 sogar in der 2. Bundesliga antreten.
In der vergangenen Bundesligasaison 23/24 dann plötzlich die Wiederauferstehung unter Sebastian Hoeneß. Diesmal hatte der VfB rein gar nichts mit dem Abstieg zu tun und landete am Ende sogar vor dem großen FC Bayern München - Der Vizemeistertitel für den VfB, der mit ungemein attraktivem Offensivfußball und Spielfreude nach vorne sowie konsequenter Defensivarbeit begeisterte. Wer nun glaubt, dass die Stuttgarter mit diesem Aufschwung im letzten Jahr ein One-Hit-Wonder sind, wird sich in der neuen Saison eines Besseren belehren lassen müssen.
Zwar mussten die Schwaben dem Erfolg der letzten Saison Tribut zollen und mit Hiroki Ito (FC Bayern), Waldemar Anton und Serhou Guirassy (beide BVB) drei Leistungsträger abgeben, doch scheint man in Stuttgart keineswegs den Kopf zu verlieren. Im Gegenteil. Bislang macht der Stuttgarter Transfersommer auch dem neutralen Beobachter unheimlich viel Spaß - und zudem noch unheimlich viel Sinn!
Transferabgänge geschickt aufgefangen und vielschichtiger geworden
Während die Schließung der aufgehenden Lücken in der Innenverteidigung durch die Abgänge von Ito und Anton bereits im Vorfeld scheinbar gut geplant und vorbereitet wurden, konnte mit Jeff Chabot einer der besten Innenverteidiger der letzten Zweitligasaison aus Köln und mit Ramon Hendriks ein vielversprechender Niederländer für das Abwehrzentrum verpflichtet werden. Wenn Dan-Axel Zagadou wieder fit ist und zu alter Stärke zurückfindet, wird die Abwehr des VfB wohl auch in der neuen Saison der Erfolgsgarant sein. Auch Anthony Rouault hat sein Potenzial bereits angedeutet. Zwar fehlt es in der Innenverteidigung nach den Abgängen noch etwas an qualitativer Breite, doch auch Leonidas Stergiou hat bereits gezeigt, dass man von ihm mehr erwarten darf, als man bisher gesehen hat. Ein weiterer gestandener Neuzugang für das Abwehrzentrum würde den Schwaben dennoch gut zu Gesicht stehen, um die Arbeit für Torhüter Alexander Nübel so gering wie möglich zu halten.
Dass mit Nübel der potenzielle Nachfolger von Manuel Neuer wieder in den eigenen Reihen steht, wird dem VfB auch in der kommenden Saison viel Rückhalt und die nötige defensive Stabilität geben.
Mit dem Bayern-Talent Frans Krätzig haben die Stuttgarter zudem einen ungemein interessanten und entwicklungsfähigen Backup für Maximilian Mittelstädt verpflichtet. Krätzig beim VfB erinnert mich ehrlich gesagt ein bisschen an Philip Lahm. Ich erwarte in Stuttgart einen großen Entwicklungssprung. Auf der gegenüberliegend rechten Abwehrseite der Stuttgarter stehen mit Josha Vagnoman sowie Pascal Stenzel zwei solide Außenverteidiger die noch nicht am Ende ihrer Entwicklung stehen.
Auch das ohnehin schon starke Herz des Stuttgarter Spiels konnte meiner Meinung nach noch verstärkt werden. Im Mittelfeld überzeugten bereits in der vergangenen Saison Atakan Karazor sowie Angelo Stiller, dem ich nach dem Abgang von Toni Kroos eine Chance im DFB-Team zutraue. Hinzu kommen der Schweizer EM-Fahrer Fabian Rieder und Yannik Keitel vom SC Freiburg. Diese Kaderergänzungen versprechen neben großem Entwicklungspotenzial auch richtig guten Fußball und dürften den Spaßfaktor in Stuttgart in der Saison 2024/25 weiter erhöhen.
Kühler Kopf und klarer Plan
Auch bei Leistungsträger und Nationalspieler Chris Führich deutet derzeit alles auf einen Verbleib in Stuttgart hin und dürfte neben der von den Fans bejubelten Nachricht, dass Silas dem Verein erhalten bleibt, ein brutal wichtiger Faktor für Stuttgart werden. Ähnlich sieht es bei Enzo Millot aus.
Die Neuzugänge Ermedin Demirovic (FC Augsburg), Justin Diehl (1. FC Köln) und Nick Woltemade (Werder Bremen) werden trotz des Abgangs von Guirassy und des noch offenen Vertragspokers um Deniz Undav für zusätzlichen Schwung im Offensivspiel der Stuttgarter sorgen und die Last auf mehrere Schultern verteilen. Dadurch wird das Spiel der Schwaben noch unberechenbarer und vielschichtiger. Neben ihnen wird sich dann auch das vielversprechende VfB-Talent Luca Raimund weiterentwickeln können.
Den Schwaben ist es gelungen, den großen Kern des Erfolges zu halten und die Verluste im Kader durch sehr kluge Transfers zu kompensieren. Auch wenn diese nach den Eindrücken der letzten Saison qualitativ nicht gleichwertig erscheinen, darf man sich davon nicht blenden lassen. Wer hätte garantiert, dass ein Serhou Guirassy auch in der nächsten Saison so auftrumpft und Tore wie am Fließband schießt? Auch für Waldemar Anton war es die erste richtig starke Saison im deutschen Oberhaus - eine Garantie, dass er diese so im nächsten Jahr bestätigt hätte, gibt es nicht. Für Ito, Anton und Guirassy zusammen 74 Millionen Euro einzunehmen und insgesamt für vergleichsweise wenig Geld vielversprechenden Ersatz zu bekommen und dabei auch noch facettenreicher zu werden, zeugt von sehr klugem Wirtschaften und viel Sachverstand - im Rahmen des neuen Profils als Entwicklungsverein. Auch die Tatsache, dass über die Abgänge kaum größer gejammert wurde, zeigt, dass die Stuttgarter ein kalkuliertes Risiko mit einem klaren Plan und kühlen Kopf verbunden haben.
Stuttgarts Reise wird weitergehen
Der VfB Stuttgart wird sich mit seinem jungen Kader mit der Mehrfachbelastung beweisen müssen, aber ich glaube, dass gerade diese kontrollierte Unbekümmertheit die große Chance des VfB sein wird. Die Entwicklung durch Spielfreude und spielerische Reife während der Saison verspricht wieder viel Spaß und Spannung rund um das Trikot mit dem Brustring. Wer aufgrund der Abgänge noch große Zweifel hat, sollte sich fragen, wie oft er in der vergangenen Saison einen Wataru Endo vermisst hat, dessen Abgang zum FC Liverpool teilweise für Untergangsstimmung sorgte.
Der vielleicht wichtigste Faktor war aber vielleicht der Verbleib von Erfolgstrainer Sebastian Hoeneß, der offenbar auch vom FC Bayern umworben wurde. Der Bessermacher wird auch in der Saison 2024/25 mehr Lösungen als Probleme finden und den Aufschwung der Schwaben weiter vorantreiben. Davon bin ich überzeugt. Er wird zusammen mit seinem Team im Saisonverlauf "erwachsener" werden, an und mit den Aufgaben wachsen.
Die Erfolgsgeschichte des VfB ist nicht ausgelutscht - noch nicht. Die Schwaben werden auch im nächsten Jahr um die Champions-League-Plätze mitspielen. Vielleicht sogar um mehr.