Kommentar zum DFB-Kader: Der Bundestrainer pokert mit offenen Karten

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat seinen vorläufigen EM-Kader bekanntgegeben. Mats Hummels ist unter anderem kein Teil des Aufgebotes. Eine riskante Entscheidung, auch wenn der Bundestrainer schlagkräftige Argumente liefert. Ein Kommentar.
Julian Nagelsmann
Julian Nagelsmann / Alexander Hassenstein/GettyImages
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Nachdem der DFB seit Sonntag den EM-Kader bereits häppchenweise verkündet hatte, trat Bundestrainer Julian Nagelsmann in Berlin vor die Presse, um sein vollständiges EM-Aufgebot zu präsentieren.

Die großen Überraschungen blieben aus, Nagelsmanns kontroverseste Entscheidung, BVB-Innenverteidiger Mats Hummels nicht zu nominieren, hatte sich nach der Bekanntgabe des Frankfurters Robin Koch als EM-Fahrer angedeutet. Anschließend berichteten mehrere Medien, dass Hummels, der zuletzt im November für Deutschland spielte, bei der Heim-EM nicht sein DFB-Comeback geben würde.

Eine Entscheidung, die nach Nagelsmanns Aussagen zwischen den letzten Länderspielen und der Kaderbekanntgabe abzusehen war. "Es ist keine Tür zu. Aber generell ist es die Kunst als Trainer, im Hinblick auf so ein Turnier eine Mannschaft zu finden, in der jeder Spieler 100 Prozent zu der jeweiligen Rolle passt", so der Bundestrainer über Hummels im April gegenüber Magenta TV.

Nagelsmann legt viel Wert auf Teamchemie

Nagelsmann hatte immer wieder betont, wie wichtig ihm die Teamchemie ist. Ein Motto, das er auf der Pressekonferenz zur Kaderbekanntgabe wiederholte: "Wir probieren 26 passende Charakterzüge zusammenzufügen, damit eine Mannschaft entsteht." Damit das gelingen kann, braucht es Spieler, die ihre Rolle akzeptieren und an einem Strang mit dem Rest der Mannschaft ziehen, auch wenn sie nicht in der ersten Elf stehen.

In der Startelf plant Nagelsmann fest mit dem Innenverteidiger-Duo Antonio Rüdiger und Jonathan Tah, das bei den Länderspielen im März überzeugte. "Wir haben uns entschieden, dass Jona und Toni, wenn sie fit sind, unsere Stamminnenverteidiger sind", erklärte der ehemalige Bayern-Trainer auf der PK.

Für Hummels wäre ohnehin nur ein Bankplatz geblieben. Dass der Dortmunder sich mit diesem abfinden würde, bezweifelt der Bundestrainer. "Aktuell sind da andere Spieler gesetzt. Dann gilt es, die richtigen Backups zu finden. Da sehe ich Mats nicht als optimale Besetzung", so Nagelsmann im März.

Trotzdem bleibt festzuhalten, dass sich der Bundestrainer mit der Nicht-Nominierung von Hummels auch selbst widerspricht. Nachdem der Innenverteidiger bereits im März kein Teil des Kader war, sagte Nagelsmann: "Alle wissen, was es bedarf, dass sie wieder reinkommen. Sie wissen aus den Gesprächen, was fehlt, damit sie wieder für die EM nominiert werden. Das entscheidet der Spieler am Ende. Ich bin nur noch das ausführende Organ."

Hummels in sehr guter Form

Mats Hummels
Mats Hummels / Chris Brunskill/Fantasista/GettyImages

Viel besser hätte Hummels sich in der Zeit seit dem Zitat nicht anbieten können. Der 34-Jährige zeigte in der Champions League hervorragende Leistungen und war einer der Schlüsselspieler beim überraschenden Dortmunder Finaleinzug. 48 Zweikämpfe gewann Hummels laut Opta in dieser Saison in der Königsklasse, ein Wert, den seit Lucio in der Saison 2009/10 kein Spieler mehr erreichte.

Dass Nagelsmann trotzdem Rüdiger und Tah Hummels vorzieht, ist verständlich. Der BVB-Profi war zwar zuletzt in Topform, über die gesamte Saison waren Rüdiger und Tah jedoch konstanter. Zudem hatten sie bereits im März die Chance, sich einzuspielen. "Wir haben viele Dinge gleich gelassen, um weiterzuwachsen mit einer sehr guten Mannschaft", erklärte Nagelsmann.

Rein leistungstechnisch müsste Hummels jedoch der erste Backup-Platz gehören. Dass für die Backup-Plätze nicht nur die Leistungen entscheidend sind, hat der Bundestrainer offen und klar kommuniziert. Bisher ist er laut eigener Aussage mit der Strategie sehr gut gefahren. "Wie ist das Klima, wie ist das Miteinander? Da war das Feedback im März sehr klar, dass es die beste Maßnahme der letzten Jahre war", so Nagelsmann am Donnerstag.

Nagelsmann geht ins Risiko

Der Bundestrainer verfolgt also einen klaren Plan, der gut begründet und in der Theorie schlüssig ist. Trotzdem ist es ein enormes Risiko, diese Strategie so konsequent umzusetzen. Ein gutes Klima in der Mannschaft ist wichtig, besonders bei den großen Turnieren. Gute Backups sind es jedoch auch.

Immerhin rang sich Nagelsmann durch, mit Nico Schlotterbeck einen weiteren formstarken BVB-Verteidiger zurückzuholen. Bisher überzeugte Schlotterbeck im Nationaldress jedoch selten. Seine Nominierung sei nach Aussagen des Bundestrainers auch mit Blick auf die Zukunft geschehen. Schlotterbeck soll nach der EM und in Richtung WM 2026 eine wichtige Rolle im DFB-Team einnehmen. Die nächste Alternative ist der Stuttgarter Waldemar Anton, der bisher insgesamt eine Minute für die Nationalmannschaft spielte.

Als Deutschland 2016 das letzte Mal bei einer EM weit in der K.o.-Phase weit vordringen konnte, stand am Ende des Halbfinals gegen Frankreich das Innenverteidiger-Duo Benedikt Höwedes - Shkodran Mustafi auf dem Platz, weil Hummels und Jerome Boateng gesperrt bzw. verletzt waren. Sollte sich dieses Szenario wiederholen, wäre es Gold wert, Hummels auf der Bank zu haben.

Bei der WM 2014 stellte Bundestrainer Jogi Löw seine Mannschaft nach dem enttäuschenden Achtelfinale gegen Algerien auf mehreren Positionen um, unter anderem in der Innenverteidigung. Boateng rückte von der rechten Seite ins Zentrum, Per Mertesacker musste auf die Bank. Der entscheidende Kniff auf dem Weg zum Titel.

Niemand gibt Nagelsmann die Garantie, dass seine Wunschelf in dieser Form das gesamte Turnier bestreiten kann oder die zuletzt gezeigten Leistungen über sieben Spiele wiederholen wird. Oftmals braucht es bei Turnieren einen Plan B. Nagelsmann geht hingegen mit seinem Plan A All-in.

Es wird davon abhängen, wie sich Rüdiger und Tah bei der EM präsentieren, ob nicht am Ende des Turniers steht: Der Bundestrainer hat sich verpokert.


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