Kommentar zu Kanadas Punktabzug: Hart für die Spielerinnen – und doch richtig

Nach dem Drohnen-Skandal bekommen Kanadas Fußballerinnen sechs Punkte abgezogen. Leiden nun die unwissenden Spielerinnen unter dem Verhalten des Verbandes? Die Strafe ist hart, doch vertretbar – solange die FIFA auch in anderen Bereichen diese harte Linie fährt.
Der kanadische Olympia-Jubel wird durch die Strafe ausgebremst. Trotzdem gibt es Gründe für die Strafe
Der kanadische Olympia-Jubel wird durch die Strafe ausgebremst. Trotzdem gibt es Gründe für die Strafe / ARNAUD FINISTRE/GettyImages
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Es gibt sie ja doch noch, die Fußballmärchen. Das war der Tenor, als Kanada 2021 sensationell bei den Olympischen Spielen im Frauenfußball die Goldmedaille gewann. Die Ahornblätter gewannen keine Preise für den schönsten Fußball, aber mit einer effektiven Taktik und starken Elfmetern gelang der größte Erfolg der Fußballgeschichte des Landes.

Im Halbfinale bezwang Kanada den ewigen Rivalen USA und damit auch ein jahrelanges Trauma. Endlich, so einige Stimmen, war man aus dem Schatten der ewigen großen Schwester herausgetreten. Doch wie bei so vielen Märchen stellt sich nun die Frage, ob es zu schön war, um wahr zu sein.

Drei Jahre später steht die Integrität des gesamten kanadischen Fußballverbands in Frage. Und sogar die Frage, ob die Kanadierinnen ihre Goldmedaille zurückgeben müssen, steht im Raum. Auslöser der Debatte war die Sichtung einer Drohne beim neuseeländischen Training: Kanada hatte den ersten Gruppengegner ausspioniert.

Kanadische Spionage: Kein Einzelfall, sondern ein System

Schnell wurde klar, dass es sich weniger um einen Einzelfall handelte als um ein ganzes System, bei Frauen- wie Männernationalteams angewandt. Laut kanadischen Medien soll Mitarbeitenden die Kündigung angedroht werden, wenn sie sich der Verbandslinie widersetzten und nicht spionieren wollten. Nun wurde das Trainerteam von der FIFA für ein Jahr suspendiert, die vor Kurzem noch als Erfolgstrainerin gefeierte Bev Priestman steht vor den Trümmern einer Karriere.

Beverly Priestman
Bev Priestman: Die kanadische Trainerin wurde für ein Jahr suspendiert - ihr Ruf ist wohl ruiniert / Omar Vega/GettyImages

Das ist wohl kaum mehr als ein Bauernopfer des kanadischen Verbands, wenn die Medienberichte stimmen und nicht Einzelpersonen, sondern ein System hinter der Spionage stehen. Umso zynischer scheint daher auf den ersten Blick die Strafe für die Spielerinnen: Sechs Punkte Abzug erhält Kanada bei den Olympischen Spielen. Das gleicht einer Disqualifikation, falls die Nordamerikanerinnen kein sportliches Wunder bewältigen.

Nationalspielerinnen als Opfer des Systems?

Die Nationalspielerinnen zeigten sich von den Enthüllungen entsetzt. Wohl auch im eigenen Interesse, denn auch das Olympia-Märchen 2021 wird nun in Zweifel gezogen. Eine nachträgliche Aberkennung des Sieges wird es wohl nicht geben, denn eine mögliche Spionage wäre schwer zu beweisen. Aber die Leistung in Tokio wird nun immer unter einem Vorbehalt stehen.

Elfmeterheldin Stephanie Labbé schrieb prompt in einem Statement, dass ihre Leistungen keineswegs durch Drohnen-Aufnahmen zustande gekommen seien, sondern durch nächtliches Pauken der Schusstechnik der Gegenspielerinnen. Und Christine Sinclair, kanadische Rekordtorschützin mit Legendenstatus, fand ebenso klare Worte: Nie habe sie Aufnahmen im Training gesehen, die von einer Drohne stammten, so Sinclair.

Wie realistisch diese Behauptung ist, ist von außen schwer zu beurteilen. Dass zumindest die Männer durchaus Aufnahmen von Drohnen zu sehen bekamen, kam inzwischen ans Licht. In jedem Fall sind die Spielerinnen in der Geschichte die Opfer und können nicht für das Schlamassel zur Verantwortung gezogen werden.

Und doch scheint die FIFA genau das zu tun, wenn sie Kanada sechs Punkte abzieht. Die Geldstraft von 200 000 Euro wird den finanziell klammen Verband ebenfalls hart treffen, aber das Turnier ist für die Nationalspielerinnen quasi beendet, ohne dass sie etwas dagegen ausrichten können – Höchststrafe für Leistungssportlerinnen. Dennoch kann die Strafe aus mehreren Gründen gerechtfertigt werden.

Strafe gerechtfertigt: Größere Debatte muss beginnen

Erstens steht nach den Enthüllungen sowieso das gesamte kanadische Turnier unter Vorbehalt. Wer weiß schon, ob auch im Vorfeld der Olympischen Spiele spioniert wurde, ohne dass es aufgefallen wäre? Bis zu einer lückenlosen Aufklärung der Vorfälle, die noch auf sich warten lassen wird, kann das „Spy-Gate“ nicht einfach ausgeklammert werden. Für die Spielerinnen wäre es womöglich noch bitterer, würden sie sich fair für das Halbfinale qualifizieren, und ihre Leistungen würden trotzdem angezweifelt werden.

Zweitens, und das ist der wichtigere Punkt, kann davon ausgegangen werden, dass Trainingsspionage nicht nur bei Kanada, sondern im gesamten Fußball verbreitet ist. Von Deutschland über England bis in die USA wurden in den letzten Jahren immer wieder solche Fälle bekannt.

Die aufgedeckten Spionage-Versuche dürften nur einen Bruchteil der tatsächlichen Problematik ausmachen. Schließlich dauerte es auch im kanadischen Fall viele Jahre, bis die Spionage ans Licht kam. Daher sollten die Vorfälle der Anstoß zu einer größeren Diskussion sein, und nicht als rein kanadisches Problem betrachtet werden.

Das Ergebnis der Diskussion muss dabei nicht unbedingt eine größere Abschottung sein: Im Gegenteil könnte auch eine Einigung darauf, dass bestimmte Trainingseinheiten immer transparent sein müssen, herauskommen. Um eine solche Diskussion zuzulassen und gleichzeitig mögliche Kanada-Imitatoren abzuschrecken, ist auch eine sportliche Strafe unverzichtbar. Gerade für Vereine kann solch eine Strafe auch wirtschaftlich gravierende Folgen haben. 

FIFA muss konsequent bleiben - auch bei anderen Themen

Das Vorgehen der FIFA könnte sich also positiv auswirken. Unter zwei Bedingungen: Erstens sollte der Verband die Spionage-Thematik nun nicht fallen lassen wie eine heiße Kartoffel – bei ähnlich skandalträchtigen Themen bisher ein beliebtes Vorgehen –, sondern sich tatsächlich kritisch damit befassen.

Und zweitens darf die neu gewonnene Konsequenz der FIFA nicht bei der Trainingsspionage aufhören. Während Bev Priestman nun schwerlich einen neuen Job finden wird, steht bei Deutschlands Gruppengegner Sambia noch immer Bruce Mwape an der Seitenlinie. Mwape wurde schon im Vorfeld der WM 2023 übergriffiges Verhalten gegenüber seinen Spielerinnen vorgeworfen.

Die Vorwürfe erhärteten sich während des Turniers. Bei Olympia ist ihm nun der Kontakt zu seinen Spielerinnen untersagt. Das ist eine lächerliche Regelung, die vielleicht kurzfristig hilft, aber es Mwape leicht macht, sein Verhalten an anderer Stelle fortzusetzen. Die WM im letzten Jahr zeigte, dass in vielen Ländern alarmierende Probleme zwischen Verband und Nationalteam herrschten. Übergriffigkeit wie bei Mwape ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Es wäre zu befürworten, dass die FIFA beim Wohlergehen der Spielerinnen ebenso konsequent handelt wie bei sportlichem Betrug. Ansonsten wird die Strafe, die eigentlich gerechtfertigt werden kann, vor allem als Beispiel einer eklatanten Doppelmoral, unter der vor allem die Spielerinnen leiden, in Erinnerung bleiben.