Kommentar - Kanada im Viertelfinale: Sportliches Wunder oder Folge des Betrugs?
Von Helene Altgelt
Kanada ging wahrlich nicht als Favorit in dieses Frauenfußball-Turnier der Olympischen Spiele. Als Titelverteidiger, ja, aber als ein Titelverteidiger, der schon 2021 auch einiges an Glück gebraucht hatte und in den nächsten Jahren einige Rückschläge erlitt. Die Taktik schien zu Ende gedacht, die Offensive zu berechenbar.
2024 kam Kanada wieder besser in Schwung, aber ganz oben auf der Liste der Favoriten standen sie nicht. Zu groß die Konkurrenz, zu stark das Tiki-Taka der Spanierinnen, die Athletik der USA, das Passspiel von Japan.
Hätte man den meisten Fans vor Startschuss erzählt, Kanada würde mit drei Punkten auf Rang zwei seiner Gruppe landen - die meisten hätten es wohl mit einem Schulterzucken hingenommen. Eine schwache Vorrunde also, vermutlich mit Niederlagen gegen Frankreich und Kolumbien. Etwas überraschend, aber nicht schockierend.
"Kanada hält zusammen": Ein sportliches Wunder?
Jetzt ist Kanada tatsächlich mit drei Punkten als Tabellenzweiter ins Viertelfinale eingezogen, spielt gegen die DFB-Frauen. Statt milder Enttäuschung herrschte Begeisterung. Viele kanadische Sportler und Sportlerinnen wie Eishockey-Legende Marie-Philip Poulin drückten ihre Bewunderung für die Leistungen des Teams aus. Auch Fußballerinnen wie Vivianne Miedema zollten Kanada Respekt: "Das zeugt von Durchhaltevermögen", schrieb Miedema in einer Kolumne.
Von den Reaktionen schien es fast, als sei Kanada als winziger Außenseiter, der noch nie ein Fußballspiel bestritten hatte, angereist. Nicht als amtierender Olympiasieger. „Die Welt ist gegen uns, Kanada hält zusammen. Das sind die Werte, die wir in dieser Gruppe haben", sagte etwa Verteidigerin Vanessa Gilles, die in der Vorrunde zweimal einnetzte: "Wenn Widrigkeiten und Druck auf uns zukommen, verlassen wir uns aufeinander.“
Wie so oft, wenn die Underdogs gewinnen, werden Team-Spirit und Entschlossenheit gepriesen. Die kanadischen Spielerinnen sehen sich selbst als Opfer, und das sind sie zu einem gewissen Grad ja auch.
Trotz sechs Punkten Abzug: Einzug ins Viertelfinale
Wie allgemein bekannt ist, wurden Kanada nach dem Auffliegen des jahrelangen Ausspionieren des Gegners sechs Punkte abgezogen. Sechs Punkte Abzug - das war genug, um noch eine Chance für den Einzug in das Viertelfinale zu lassen, aber gleichzeitig diese Chance sehr gering zu halten. Eine elegante Lösung für IOC und FIFA, die wohl nichts gegen ein kanadisches Aus in der Gruppenphase gehabt hätten. Für sie hätte das die Lage vereinfacht. Und bei einem Ausscheiden hätten sie einfach argumentieren können: "Schade, aber ihr hattet es ja in der eigenen Hand."
Nun ist Kanada aber gegen alle Wahrscheinlichkeiten weitergekommen, hat Neuseeland besiegt, dann Frankreich, dann Kolumbien. All das unter höchstem Druck. Für Neuseeland ging die Strafe nicht weit genug. Denn obwohl Kanada sechs Punkte abgezogen wurden, behielten sie einen Vorteil durch die Tordifferenz in den gewonnenen Spielen. Neuseeland, die nachweislich betrogen wurden, wollten das Spiel gar nicht erst gelten lassen. Damit kamen sie aber nicht durch.
Genauso wenig wie das kanadische Olympische Komitee: Vor dem letzten Spiel gegen Kolumbien wollte dieses den Punkteabzug anfechten. Begründung: Die Strafe sei unfair für die Spielerinnen, die schließlich nicht selbst Drohnen gesteuert hätten. Der Verband Canada Soccer wolle für die Spielerinnen eintreten - etwas dreist, nachdem er ihnen selbst durch ein organisiertes Spionage-Programm all das eingebrockt hatte.
Kanada kann Täter und Opfer zugleich sein - die Nuance fehlt
Die Kanadierinnen beteuern durch die Bank, nie Drohnen-Videos gesehen zu haben oder etwas aufgeschnappt zu haben, von Kapitänin Jessie Fleming bis zur in den Ruhestand verabschiedeten Stürmerinnen-Legende Christine Sinclair. Es ist ein hartes Los für die Spielerinnen, und die Aberkennung der Tokio-Goldmedaille von 2021 kann ohne Beweise kein Thema sein.
Trotzdem fehlte bei all den emotionalen Äußerungen der Kanadierinnen in den letzten Tagen eine wichtige Nuance, eine Einsicht. Die Spielerinnen können unschuldig sein und gleichzeitig doch einen unfairen Vorteil besessen haben. Das ist kein Widerspruch. Es ist doch eine erstaunliche Wendung, die die Debatte um den Fall genommen hat. In wenigen Tagen wurde Kanada vom betrügenden Bösewicht zum Opfer. Beides kann richtig sein.
Falls Kanada gegen Deutschland gewinnen sollte und damit ins Halbfinale und in greifbare Nähe einer Medaille kommen sollte, werden die enthusiastischen Zusprüche aus der Heimat wohl nochmal zunehmen. Die Gegenstimmen aber auch.