Kommentar zur Nagelsmann-Entgleisung: Auf die Goldwaage gehört das schon
Von Oscar Nolte
Julian Nagelsmann hat sich am Samstag zu einer deftigen verbalen Entgleisung hinreißen lassen. Geleitet von Emotionen, psalmodierte der Bayern-Coach später in seiner Entschuldigung. 'Mund abputzen, weiter geht's' ist aber genau die Art von Tiefstapelei, die mich irritiert zurücklässt.
Ich stelle mir manchmal vor, dass aus gesellschaftlicher Perspektive grundsätzlich kein Unterschied zwischen Otto-Normal-Jobbern und Menschen aus der Profi-Fußball-Branche besteht, dass die Ungleichheit letztlich nur in der Art der Bezahlung liegt. Am Ende des Tages sprechen wir doch einfach von arbeitstätigen Menschen, die ihrem Handwerk aus finanziellen und sozial-systemischen Motiven nachgehen und damit ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten. Und ich muss zugeben: diese Vorstellung fühlt sich komisch an. Otto-Normal ist nämlich wenig, was im Geschäft des Profi-Fußballs abläuft.
Aber bleiben wir für einen Moment in diesem kafka-esquen Bild. Stellen Sie sich vor, dass Sie morgen mal ins Büro Ihrer Vorgesetzten oder Kollegen und Kolleginnen marschieren und eine von Ihnen empfundene Ungerechtigkeit im O-Ton Julian Nagelsmanns vortragen. Morgen ist Montag, welcher Tag würde sich dafür besser eignen. Und später, wenn Ihnen dann mit Kündigung gedroht wird, weil "weichgespültes Pack" ein Vokabular ist, das einfach absolut daneben ist und nirgendwo etwas zu suchen haben sollte, dann verweisen Sie doch bitte darauf, dass Sie sich von Emotionen leiten ließen, die gehören ja irgendwie auch zur Arbeit dazu. Später garnieren Sie das noch mit einer dahingemurmelten Entschuldigung in Ihren Sozialen Kanälen und unterstreichen, dass auch ja kein Mensch aus dem Betrieb daraus jetzt eine große Sache machen soll - war doch halb so wild.
Glauben Sie, dass Sie am Dienstag noch zur Arbeit gebeten werden?
Nagelsmann und Salihamidzic spielen Ausraster herunter
In der Welt des Profi-Fußballs scheint dieses Verhalten aber Otto-Normal zu sein. Das habe ich mir nicht ausgedacht, das haben die in diesem Fall handelnden Akteure so zu Protokoll gegeben. Ein paar Zitate, als direkte Reaktionen auf den "weichgespültes-Pack-Tobsuchtanfall":
Julian Nagelsmann, Mixed Zone nach dem Spiel:
"Natürlich habe ich mich in der Mixed Zone aufgeregt. Aber bitte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Es gibt Emotionen in diesem Sport, davon lebt er auch. Es ist nicht alles richtig, was ich sage oder von mir gebe. Deshalb nicht 18 Nachfragen und nicht auf jedes Titelblatt bitte."
Hasan Salihamidzic, zitiert von transfermarkt.de:
"Natürlich sind wir alle emotional, wenn wir so ungerecht behandelt werden. Natürlich ist das schwer auch für den Trainer [...]. Ich glaube, das muss man ihm jetzt erstmal zugestehen."
Waldemar Hartmann, Sport1-Doppelpass:
"Selbst der liebe Gott hat nicht alles richtig gemacht. [...] "Wenn Christian Streich sowas macht, wird da allerdings in den Medien schön ein Schaum drüber gelegt, weil er so beliebt ist."
Steffen Baumgart, Bild-TV:
"Und jetzt bitte nicht falsch verstehen: Jetzt kommt jeder aus den Löchern geschossen und erzählt, wie er es hätte machen sollen. Keiner ist in dieser Situation. Jetzt ist er über eine Grenze gegangen, hat sich entschuldigt und dann ist auch wieder gut."
Die Mutter aller Verharmlosung im Fußball: 'Emotionen gehören dazu'
Und genauso sieht es aus, wenn etwas runtergespielt wird, weil die handelnden Personen sich eigentlich keiner Schuld bewusst sind. Das ist eine Art der Verharmlosung, bei der ich mich ehrlich frage, wer sich heute noch bereit dazu erklärt, als Schiedsrichter ein Bundesliga-Spiel zu leiten. Deniz Aytekin sagte unlängst, dass Schiedsrichter nicht der "Mülleimer der Nation" sind; behandelt werden sie gerne als solche, was weiterhin ein absolut unterschätztes Unding ist.
Und an dieser Stelle sei auch noch einmal ganz deutlich gesagt: Emotionen sind keine Generalausrede für unmoralisches, unethisches und oder schlichtweg widerliches Verhalten. Und in dieser Form lebt der Fußball auch nicht davon. Das überhaupt anzunehmen, auf dieser Grundlage mit hohlen Rechtfertigungen und Verharmlosungen auftreten - das zeigt mir, wie abgehoben große Teile der Profi-Fußball-Branche mittlerweile sind; das die Otto-Normal-Spielregeln für millionenschwere Fußballspieler und -trainer nicht mehr zu gelten scheinen, und wenn es nur die simpelsten Regeln menschlichen Zusammenseins sind.
Mitgetragen darf ein solches Verhalten nun weder von den Fans, noch von den Medien und letzten Endes auch nicht von Mitspielern oder Vorgesetzten werden. Das führt nur dazu, dass das zum Teil unterirdische Verhalten von Menschen aus der Profi-Fußball-Branche weiter toleriert und mit Floskeln wie "Emotionen" oder "muss man nicht auf die Goldwaage legen" abgespeist wird.