Jonas Boldt über die Erwartungen rund um den Hamburger SV
Von Guido Müller
Das für die Klubs aufgrund der Länderspiel-Pause spielfreie Wochenende nutzte HSV-Sportvorstand Jonas Boldt, um auf der offiziellen Vereins-Webseite die Hintergründe der diesjährigen Transferstrategie der Hamburger sowie die künftige Ausrichtung des Klubs zu kommentieren.
Bis zum vergangenen Dienstag, kurz vor 18.00 Uhr, weilten wahrscheinlich noch viele HSV-Fans vor den einschlägigen Transfer-Tickern auf die Nachricht einer Verpflichtung eines namhaften Spielers.
Doch der kam nicht. Und das hat natürlich handfeste ökonomische Gründe. "Wir müssen die Bewertung an die Rahmenbedingungen unseres Standorts knüpfen", fordert Boldt einen genaueren Blick auf die herrschenden Zwänge.
Spagat zwischen sportlicher Entwicklung und wirtschaftlicher Vernunft
"Ich kann verstehen, dass die Erwartungshaltung nach Namen beim HSV sehr groß ist, dass sich einige Fans auch noch andere Spieler gewünscht hätten. Die meisten Menschen können aber nicht hinter die Kulissen gucken. Wir gehen den Weg, etwas nach vorn zu bringen und gleichzeitig wirtschaftlich vernünftig zu arbeiten."
Denn das ist vorher nicht immer so gewesen, wie auch Boldt eingestehen muss: "Der HSV hat in den Jahren zuvor auf dem Transfermarkt wirtschaftlich nicht immer gut gearbeitet, dafür müssen wir immer noch ein bisschen Tribut zollen. Seit ich hier bin, ist es eine Vorgabe, dass wir Gelder einnehmen müssen. Die einfachste Weise ist durch Transfers, auch wenn wir die Spieler gerne gehalten hätten."
Womit er sich vor allem auf die Verkäufe von Douglas Santos (2019) oder Amadou Onana (dieses Jahr) bezieht. Beide gehören zu den historischen Top15 der Rekordverkäufe der Hanseaten. Ein Weg, der in Boldts Augen auch Früchte getragen hat - wenn auch ohne den krönenden Abschluss einer Rückkehr ins Oberhaus.
"Wir arbeiten mit Frank Wettstein bei Vertragskonstellationen und Ablöse in eine Richtung, die absolut vernünftig ist. Wir hatten in den vergangenen Transferfenster jeweils einen Transferüberschuss, haben die Gehaltskosten heruntergeschraubt und trotzdem eine schlagkräftige Truppe am Start."
Wie schlagkräftig die Mannschaft in dieser jüngst angebrochenen Saison sein kann, wird sich erst noch zeigen. Rund um den Deadline-Day tüteten die Hamburger mit Mario Vuskovic (19) und Tommy Doyle (19) noch zwei Verpflichtungen ein, die in das Beuteschema (jung, entwicklungsfähig und nicht all zu teuer) passen.
"Ähnlich wie bei vielen Spielern in unserem Kader handelt es sich auch bei diesen beiden um Spieler, die hungrig sind, den HSV als nächsten Karriere-Step für sich sehen und einen möglichst großen Anteil daran haben wollen, mit der Mannschaft sportlich Siege einzufahren. Wann sie spielen und wie viel sie spielen werden, ist eine Frage des Trainers und der Konkurrenzsituation."
Säulenspieler-Konzept schon wieder hinfällig?
Wurde in der vergangenen Saison noch das Prinzip der "Säulenspieler" (Ulreich, Leistner, Gjasula, Terodde)propagiert, scheint man davon im laufenden Geschäftsjahr abgekommen zu sein. Für Boldt allerdings bedeutet das keinen Widerspruch.
"Aus meiner Sicht haben wir den Weg nicht verlassen, sondern in den vergangenen Jahren das erste Mal einen Weg eingeschlagen. Dass ein Weg Anpassungen braucht, insbesondere wenn Dinge nicht ganz so funktionieren, ist unabdingbar. Das Schlimmste ist, wenn man etwas stur durchzieht und sich die Augen zuhält. Deswegen haben wir Anpassungen vorgenommen."
Boldt sieht in den letzten Trainer-Verpflichtungen keine Umkehr der Vereinsstrategie
Eine disruptive Entwicklung (wie sie viele Fans sehen) kann der Sportvorstand auch bei der Bestellung des Trainers nicht erkennen. Vielmehr spricht er von "Anpassung".
"Ich erkläre", so Boldt, "dass wir in erster Linie überlegen, welchen Trainer wir holen, weil wir ein gewisses Profil suchen. Das war sowohl bei Dieter Hecking und Daniel Thioune als auch jetzt bei Tim Walter so. Das Profil hat sich etwas angepasst: von der Persönlichkeit und der Spielumsetzung des Trainers. Aber es war klar, wir werden immer eine Mannschaft sein, die viel den Ball hat und deswegen brauchen wir einen Trainer, der damit umgehen kann und ebenfalls offensiv spielen lassen möchte."
Für ihn sei Walter von der Spielphilosophie her durchaus mit seinem Vorgänger Daniel Thioune zu vergleichen "außer dass die Anlage der Spieleröffnung bei Tim noch mutiger ist."
Den Vorwurf, das Spielermaterial zu sehr vom jeweiligen Trainer abhängig zu machen, lässt Boldt ebenfalls nicht gelten.
"Wenn man sieht, welche Spieler bisher viel gespielt und auf sich aufmerksam gemacht haben, dann reden wir zum Beispiel über Sebastian Schonlau. Bascho haben wir verpflichtet, bevor Tim Walter hier überhaupt zur Debatte stand."
"Oder auch Jonas Meffert, ihn kenne ich seit über zehn Jahren, habe ihn persönlich begleitet und auch vorher schon überlegt, ihn hierherzuholen, aber die Rahmenbedingungen haben nicht gepasst. Dass Tim Walter ihn auch kennt und die Idee sehr gut fand, ist logisch. Wir hatten auf der Position Bedarf, deshalb passt es. Es ist ein Zusammenspiel: Man wählt einen Trainer aus, der eine Idee hat, mit der wir uns identifizieren und bei Spielern über die gleiche Denkweise redet."
Leistner wollte kein "Gute-Laune-Bär" sein!
Über Toni Leistner, der nun nicht mehr am Volkspark weilt, und über die Hintergründe seines letztlichen Abgangs verlor der Manager ebenfalls ein paar Worte: "Vom Profil hätte Toni ein wichtiger Spieler für diese Liga werden können. Allerdings hat er gesagt, und das ist auch ehrlich von ihm, er sieht sich nicht zwingend in der Rolle, den Gute-Laune-Bär hintendran zu spielen. Das ist vollkommen ok und nachvollziehbar. Dafür hat er sich seine Sporen verdient. Aber um erfolgreich zu sein, brauchen wir eine Gruppe, die sich gegenseitig unterstützt und deswegen war es für alle das Beste, einen sauberen Cut zu machen."
Insgesamt fordert Boldt nun auch von den Fans eine gewisse Geduld ein. "Bei uns in der sportlichen Führung und auf der Geschäftsstelle gibt es die Geduld. Natürlich auch bei ganz vielen Fans, die mich darauf zum Beispiel auf der Straße ansprechen. Es gibt aber natürlich auch unruhige und ungeduldige Fans. Und dass man diese Stimmen mehr hört, wenn es nicht so läuft, ist auch klar."
Standort Hamburg ist etwas Besonderes
Dennoch seien Modelle anderer Klubs, wie z.B. Union Berlin, Greuther Fürth, VfL Bochum oder Arminia Bielefeld (die allesamt den Aufstieg in den vergangenen Jahren geschafft haben) nicht eins zu eins auf den HSV anwendbar.
"Bei Union Berlin und Arminia Bielefeld ist über Jahre etwas gewachsen: wenig Transfers, gleiche Trainer, Kontinuität, verhältnismäßig ruhiges Umfeld und dann aus der Underdog-Rolle in eine Dynamik reingekommen. Trotzdem weiß ich nicht, ob die Art und Weise, wie dort Fußball gespielt wurde, hier in Hamburg funktioniert hätte, weil die Erwartungshaltung eine andere ist."
Kritisch bemerkt Boldt in diesem Zusammenhang die sich zuletzt häufenden Pfiffe der HSV-Fans an, wenn Torwart Heuer Fernandes mal wieder in das Aufbauspiel der Hamburger eingebunden wird.
"Wenn man merkt, dass bei uns am zweiten Spieltag, wenn der Ball zum Torwart zurückgespielt wird, ein Raunen durchs Stadion geht. Das ist an solchen Standorten nicht der Fall. Deswegen kann man Union Berlin, Arminia Bielefeld oder Greuther Fürth nicht einfach nach Hamburg kopieren."
Gesamt-Entwicklung geht über den jeweiligen Tabellenplatz
In seiner Gesamtbewertung will Boldt vor allem eine nachhaltige Entwicklung über die tagesaktuellen Ergebnisse stellen. Insofern dass in Gänze überhaupt möglich ist.
"Natürlich spielt der Tabellenplatz eine wichtige Rolle, aber die Gesamt-Entwicklung des Clubs ist das Entscheidende. Ich finde, es gibt einige Dinge, die sich hier verändert haben. Es ist deutlich ruhiger geworden, der Zusammenhalt und die Vernetzung zum Nachwuchs sind besser, deshalb werden Spieler nach oben geschoben, die früher im Profibereich vielleicht gar nicht bekannt gewesen wären. Es wächst etwas zusammen. Ich denke, man spürt auf der Geschäftsstelle, dass es mutigere Entscheidungen gibt. Das alles ist nicht immer am Tabellenplatz erkennbar, aber es funktioniert nur so. Am Ende ist der Sport das Produkt."
Am kommenden Samstag (20.30 Uhr), im Heimspiel gegen den SV Sandhausen, muss sich dieses Produkt dann auch schon wieder in Zählbarem (sprich: Punkte) ausdrücken lassen.