Japan stark, Australien euphorisch: Das Power Ranking vor dem WM-Viertelfinale
Von Helene Altgelt
Nach dem Achtelfinale ist es Zeit, ein kleines Zwischenfazit zu ziehen: Acht Teams sind noch dabei, das Feld ist nach dem Ausscheiden einiger Favoriten extrem ausgeglichen. Wer hat die besten WM-Chancen und wer hat enttäuscht? Unser Power-Ranking vor dem Viertelfinale.
8. Kolumbien
Kolumbien im Viertelfinale, das ist eine der Überraschungen der WM. Die Cafeteras würden in der Gruppe H für Deutschland ein unangenehmer Gegner sein, so viel war klar. Kolumbien wurde schließlich letztes Jahr bei der Copa America Zweiter und hat eine talentierte Offensive um Catalina Usme, Mayra Ramirez und Linda Caicedo.
Defensiv konnten die Kolumbianerinnen aber ebenfalls überzeugen, haben bisher nur zwei Gegentore kassiert. Ein bisschen Losglück war auch dabei, denn im Achtelfinale wartete mit Jamaika nicht der stärkste Gegner im Turnier. Das 1:0 fiel in die Kategorie verdienter Arbeitssieg, jetzt kann Kolumbien nach Deutschland den nächsten Favoriten schocken.
Wenn es Kolumbien gelingt, gegen England ähnlich aufzutreten wie Nigeria es tat, haben sie eine reelle Chance. Dafür muss aber hinten alles passen, und vorne müssen sie aus ihren Möglichkeiten alles machen - Nigeria war mit zwei Lattentreffern im Pech, das kostete sie am Ende vielleicht den Sieg.
Ein Vorteil für die Südamerikanerinnen sind die lautstarken Fans, die bisher jedes Spiel zum Heimspiel gemacht haben. Falls Kolumbien trotz aller widrigen Umstände und Probleme mit dem Verband das Halbfinale erreichen sollte, wäre es eine echte Sensation.
7. Niederlande
Die Niederlande haben bei dieser WM viele überrascht. Sie gewannen ihre Gruppe vor den USA und zeigten dabei guten Offensivfußball. Wenn man sich nur die Resultate der letzten Turniere anschaut, scheint das wenig überraschend: 2017 wurden die Oranje Leeuwinnen Europameisterinnen, zwei Jahre später standen sie im WM-Finale.
Danach folgte aber eine durchwachsene Phase mit zwei Trainerwechseln und schwachen Spielen bei der EM. Waren die Niederlande mit den beiden Erfolgen zuvor nur ein Two-Hit-Wonder? Dazu kommt, dass Rekordtorschützin Vivianne Miedema für die WM verletzt ausfällt.
Trainer Andries Jonker hat seit seiner Übernahme nach der EM aber viel richtig gemacht und die Niederlande wieder in die Spur des Erfolgs geführt. Dominique Janssen ist in ihre Rolle als Abwehrchefin hereingewachsen, Daphne van Domselaar ist ein sicherer Rückhalt und das Mittelfeld um Jackie Groenen steht gut.
Die Niederlande sind der Inbegriff von solidem Handwerk, aber gegen Spanien müssen sie noch einen Tick zulegen. Der Ausfall von Mittelfeldspielerin Danielle van de Donk schmerzt, aber mit Damaris Egurrola hat Andries Jonker einen guten Ersatz zur Verfügung.
6. Schweden
Wer die USA rauskickt, ist Topfavorit - oder? Für Schweden gilt das nicht unbedingt. Zwar sind die Skandinavierinnen jetzt das höchste verbleibende Team in der Weltrangliste und haben bisher alle Spiele gewonnen. Erster Anwärter auf den Titel ist Schweden trotzdem nicht, vor allem da es im Viertelfinale gegen Japan, geht.
Der Sieg gegen die USA im Elfmeterschießen war dramatisch, mit einer Millimeter-Entscheidung zum Schluss und unzähligen Glanzparaden von Torhüterin Zećira Mušović. In der regulären Spielzeit kontrollierten die USA aber das Spiel, Schweden war fast nur mit dem Verteidigen beschäftigt. Der Konterstil gehört zur DNA von Peter Gerhardssons Team, aber die Schwedinnen konnten sich kaum eigene Chancen herausspielen.
Die Offensive ist weiterhin das große Fragezeichen hinter Schwedens erneutem Anlauf auf einen großen Titel. Nur auf Ecken und Elfmeter zu zählen, scheint etwas wenig, wenn man es ins Finale schaffen will. Die Verteidigung müssen die Gegnerinnen aber erstmal knacken.
5. Australien
Nach dem Achtelfinal-Sieg gegen Dänemark wird die Hoffnung auf ein Matildas-Märchen in Australien immer größer. Das Team von Tony Gustavsson konnte dank Top-Leistungen von Caitlin Foord, Hayley Raso und Mary Fowler verdient mit 2:0 gewinnen.
Die Schlagzeilen gehörten aber einer, die erst in der 80. Minute eingewechselt wurde: Kapitänin und Superstar Sam Kerr soll Australien zum ersten großen Titel führen und Down Under Kopf stehen lassen. Kerr ist Teil einer fantastischen Offensiv-Abteilung, die es mit allen bei dieser WM aufnehmen kann.
Die Matildas sind für chaotische Spiele bekannt: Bei Olympia 2021 siegten sie etwa dramatisch mit 4:3 in der Nachspielzeit gegen England. Doppelpack Kerr, Offensivdrang und Defensivprobleme, diese 120 Minuten zeigten den Spielstil der Australierinnen ganz gut.
Vielleicht hat die Elf von Gustavsson damit nicht die besten Chancen auf den WM-Sieg, aber die Spielerinnen begeistern das Land. Die Euphorie-Welle soll Australien noch weit tragen, am besten bis zum Titel. Die französische Offensive wird für die anfällige Verteidigung eine hohe Hürde, aber Australien ist es zuzutrauen, einfach noch ein Tor mehr zu schießen.
4. Frankreich
Im März trennte sich der französische Fußballverband von Trainerin Corinne Diacre, nach Jahren der Diskussion und der Unruhe - gerade noch rechtzeitig, wie es nach dem Achtelfinale scheint. Diacre war wegen ihres harschen Umgangs mit den Spielerinnen stark umstritten, immer wieder kamen neue Vorwürfe ans Licht, bis sogar die wichtigsten Leistungsträgerinnen der Bleues zurücktraten.
Vier Monate vor Beginn der WM entließ der Verband Diacre schließlich. Zuvor hatte die FFF die Trainerin wegen ihrer fachlichen Kompetenz immer geschützt. Bei der WM zeigt sich aber erneut, dass sich der Umgang mit den Spielerinnen und die sportlichen Leistungen nicht trennen lassen. Mehrere Spielerinnen haben betont, dass sie sich unter ihrem Nachfolger Hervé Renard deutlich wohler und freier fühlen.
Renard hat keine taktischen Wunderleistungen erbracht, aber dem Team eine stringente Spielweise verordnet, die es seinen Spielerinnen erlaubt, ihre Stärken auszuspielen. Davon gibt es viele: die Schnelligkeit und Technik von Kadidiatou Diani, die Torgefahr von Eugénie Le Sommer - von Diacre noch aussortiert -, die Kopfballstärke von Wendie Renard und die Übersicht von Grace Geyoro.
Unter Renard bringt Frankreich diese Stärken nun endlich auf den Platz, besiegte Marokko im Achtelfinale überzeugend mit 4:0. Ein wirklicher Härtetest fehlt aber noch. Im Viertelfinale gegen Australien wird sich zeigen, ob die Defensive auch gegen Topspielerinnen wie Kerr, Foord und Raso standhalten kann. Das Potenzial für ein Torspektakel ist da!
3. Spanien
Spanien hat bei dieser WM schon wunderschönen Fußball gezeigt: Aitana Bonmatí ist die Taktgeberin eines Orchesters, das sich mit Steilpässen und One-Touch-Fußball in einen Rausch spielen kann. Gegen die Schweiz hatte Spanien im Achtelfinale nicht die geringsten Probleme, ebensowenig wie gegen Costa Rica und Panama.
An dem Potenzial dieses Teams besteht überhaupt kein Zweifel, Spanien ist individuell vielleicht die stärkste Elf bei dieser WM. Aber das war auch schon bei vorherigen Turnieren so, und dennoch ist Spanien bei WMs und EMs noch titellos. Klappt es bei dieser Weltmeisterschaft ohne die Hürde USA, an der Spanien 2019 scheiterte?
Manchmal sagt eine Niederlage mehr aus als drei Siege, und das dritte Gruppenspiel Spaniens dämpft die Euphorie erheblich. Mit 0:4 ging das Team von Jorge Vilda gegen Japan unter, trotz 77% Ballbesitz. Es war das perfekte Beispiel dafür, dass tausend Pässe allein noch nichts bringen. Spanien wurde nach allen Regeln der Kunst ausgekontert und fand vorne im Dickicht der japanischen Beine kein Durchkommen.
Verteidigerin Irene Paredes nannte die Niederlage einen "Unfall", aber die Konter sind bei Spaniens offensivem Spielstil eigentlich ein Betriebsrisiko. Vilda sagte nach dem Spiel, er habe mit Japans starkem Pressing im Mittelfeld nicht gerechnet - für ein mögliches Wiedersehen im Halbfinale wird er nun gewarnt sein. Wenn Spanien sich auf der schwierigen Seite des Turnierbaums durchsetzt, haben sie im Finale gute Chancen. Wenn nicht, wird sich Vilda noch mehr unangenehme Fragen gefallen lassen müssen.
2. England
Statistisch gesehen hat England die besten Chancen auf den WM-Titel: Nach den Berechnungen von The Analyst hat England eine Wahrscheinlichkeit von 26,29% Weltmeister zu werden. Das liegt an der individuellen Qualität und dem vergleichsweise einfachen Weg ins Finale. Erst wartet mit Kolumbien das vermeintlich schwächste verbleibende Team, dann geht es gegen Frankreich oder Australien.
Ähnliche Berechnungen hatten vor der WM aber auch Deutschland und die USA als aussichtsreiche Kandidaten für den Titel auserkoren - zu sehr sollte man sich auf die Statistik also nicht verlassen. Im Augen-Test schneidet die Elf von Sarina Wiegman zudem bisher schlechter ab als auf dem Papier. Bis auf das letzte Gruppenspiel gegen China konnten die Europameisterinnen noch nicht wirklich überzeugen.
Der Sieg im Elfmeterschießen gegen Nigeria sollte Sarina Wiegman ein Warnzeichen sein: Kolumbien ist nicht zu unterschätzen, die Lionesses müssen sich steigern. Wenn England ins Finale will, müssen sie variabler werden und sich besser auf den Gegner einstellen. Nigeria nahm Keira Walsh und Lauren James effektiv aus dem Spiel und England damit den Wind aus den Segeln. Wiegman reagierte darauf zu spät - für die nächsten Spiele ist ihr berühmtes goldenes Händchen wieder gefragt.
1. Japan
14 Tore hat Japan bisher geschossen, mehr als jedes andere Team bei der WM. Nadeshiko Japan hat alle drei Gruppenspiele dominant gewonnen und dabei den schönsten Fußball der WM gezeigt. Flüssig und schnell, technisch überragend, eiskalt. Alle Rädchen greifen ineinander, jede versteht ihre Rolle, perfekte Organisation, ohne auf Spontaneität zu verzichten.
Das Kollektiv ist größer als jede Einzelspielerin, Japan kann es sich erlauben, Stars wie Jun Endo oder Yui Hasegawa auf der Bank zu lassen, ohne an Qualität zu verlieren. Aber trotzdem ist Raum für Individualität. Am Ball hat jede Spielerin die Freiheiten, die sie braucht, solange das Pressing darunter nicht leidet.
Mit 4:0 demolierte Japan den Mitfavoriten Spanien, es war eine Lehrstunde der Effizienz: Drei Ballberührungen im Strafraum in der ersten Hälfte, drei Tore. Japan kann, wie gegen Sambia und Costa Rica, das Spiel machen und es dominieren, aber sich auch tief zurückziehen. Diese taktische Flexibilität und die Anpassung an den Gegner sorgen dafür, dass Japan, vor dem Turnier höchstens Geheimfavorit, plötzlich als Kandidat auf den Titel gehandelt wird. Auch Norwegen hatte den Japanerinnen im Achtelfinale wenig entgegenzusetzen.
Schweden wird im Viertelfinale aber eine Reifeprüfung für das junge Team: Können sie auch eine gut organisierte Defensive knacken? Hält die Verteidigung den gefährlichen Standards der Skandinavierinnen stand? Kann Japan von einem Rückstand oder einer schwachen Phase zurückkommen? Wenn das Team von Futoshi Ikeda alle dieser Fragen überzeugend beantworten kann, sind sie endgültig Topfavorit.
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