Italien begeistert bei der EURO: Plötzlich Top-Favorit auf den Titel?
Von Yannik Möller
Auch das zweite Gruppenspiel konnte Italien mit 3:0 gewinnen, dieses Mal wurde die Schweiz klar geschlagen. Nach nur zwei Spielen haben sich Gli Azzurri zu einem, wenn nicht gar dem großen Titelfavoriten dieser Europameisterschaft aufgeschwungen. Die Stärken des Europameisters von 1968 lassen nicht nur Bastian Schweinsteiger in Schwärmen geraten. Im Achtelfinale dürfte zudem noch kein all zu harter Brocken warten.
15 Stunden sind eine sehr lange Zeit. Eine Zeit, die einem umso eindrucksvoller vorkommt, wenn man sie in Fußballspiele á 90 Minuten aufteilt. Solange hat die italienische Nationalmannschaft nun schon kein Gegentor mehr bekommen. Ein enorm starker Wert, der einen zunächst an das häufig als klassisch italienisch angehauchte Abwehrbollwerk denken lässt.
Dass dieser 15-Stunden-Wert so besteht und in der öffentlichen Wahrnehmung höchstens eine kleine Rolle am Rande spielt, hat sich das Team von Trainer Roberto Mancini selbst erarbeitet. Denn gleichzeitig glänzt auch die Offensive. Der 3:0-Auftaktsieg gegen die Türkei war bereits ein erstes Ausrufezeichen, das mit dem 3:0-Sieg gegen die Schweiz am Mittwochabend nur noch größer wurde.
Italien kann schon jetzt als EM-Favorit bezeichnet werden: Ein titelreifer Mix aus sicherer Defensive und einer flexiblen, gefährlichen Offensive
Nach diesen zwei Partien, die souverän und völlig verdient gewonnen werden konnten, stellt sich bereits frühzeitig die Frage: Ist Italien schon jetzt der EM-Favorit? Normalerweise würde man betonen, dass die anderen hochklassigen Teams gerade einmal eine Partie absolviert haben. Und dennoch ist es keineswegs zu früh, um festzustellen: Ja, Italien ist zurzeit der EM-Favorit. Natürlich einer von mehreren, aber die Nase haben sie definitiv vorne.
Gegen die Schweiz zeigte die Squadra Azzurra erneut, weshalb sie so stark ist. Kurzum: Die Defensive steht stabil und sicher, während die Offensive mit einem beeindruckenden Druck und einer großen Durchschlagskraft daherkommt. Jeweils drei Tore zu erzielen und dabei keines zu kassieren, das ist in Turnieren, in denen oftmals eher die sichere, zurückhaltende Herangehensweise gewählt wird, ein Zeichen für sich.
Die Schweizer wollten früh, mutig und in der gegnerischen Hälfte attackieren. Ein Versuch, der schlichtweg ins Leere lief und mit der Zeit an Wirksamkeit nur noch weiter verlor. Die Italiener wirkten beinahe pressingresistent, das gute Positionsspiel half immer wieder dabei, mehrere sichere Anspielstationen zu haben. Dabei wirken die Spieler auf dem Platz so eingespielt, als würden sie das ganze Jahr auch auf Vereinsebene zusammenspielen.
Die defensive Sicherheit war oft eine Art Alleinstellungsmerkmal, aber eher im anderen Sinne. Nicht, weil nur Italien den Fokus auf die Abwehr legte. Sondern eher, überspitzt formuliert, weil Italien nur auf die Abwehr den Fokus legte. Das ist zwar längst nicht mehr der Fall, ein Resultat der Arbeit von Coach Mancini. Und dennoch steht die Defensive mit dem erfahrenen Giorgio Chiellini an der Spitze wie eine Eins.
In den beiden bisherigen Spielen wird plötzlich die Offensive gefeiert. Dabei beherrscht Italien weder nur ein gefährliches Umschaltspiel, noch nur einen geduldigen Ballbesitzfußball, der früher oder später zu Torchancen führt. Beides gehört zum wichtigen Repertoire - das macht dieses Team so vielseitig und nur schwer bespielbar.
Auch am Mittwochabend wieder zu sehen, und bei allen wichtigen taktischen Komponenten nicht zu vernachlässigen: Das Team agiert mit einem solchen Selbstvertrauen, einer solchen Ernsthaftigkeit für diese Aufgabe, ohne dabei den Spielspaß zu verlieren. Bei einem Turnier kann so ein Lauf, gespeist aus diesen Faktoren, von großer Bedeutung sein. Die Kaderbreite ist eine weitere Stärke, die nicht vergessen werden sollte.
Doch sind es auch die kleinen Dinge, die Italien zurzeit erfolgreich macht. Ein sehr gutes Beispiel in der Offensive: Die wichtigen Läufe der Stürmer. Und damit sind explizit nicht nur die Läufe in die Tiefe, hinter die gegnerische Abwehr gemeint. Dass Räumeziehen und Binden von Gegenspielern wird bei Abschlüssen und bestenfalls Toren sehr selten beobachtet, wobei dies so wichtig sein kann.
Perfekt zu sehen beim 2:0 von Manuel Locatelli. Es wird um den Strafraum der Schweiz gespielt, während Ciro Immobile zentral vor diesem steht. Der Ball wird über die rechte Seite gespielt während es abzusehen ist, dass der nächste Pass ins Zentrum kommen wird. Immobile fordert den Ball aber nicht selber, sondern zieht zum Sprint in den Sechzehner an. Dabei bindet er einen Verteidiger, der automatisch mitgeht. Dadurch entsteht ein großer Raum für Locatelli, der den Ball in Ruhe annehmen, vorlegen und dann erfolgreich im Tor unterbringen kann.
So passen derzeit auch die kleinen Abstimmungen, die kleinen Feinheiten, auf die einige Nationalmannschaften nicht setzen können. Sie sind zu oft zu wenig eingespielt - ein Eindruck, auf den man angesichts der bisherigen Leistungen Italiens nicht einmal ansatzweise kommt.
Vorsicht: Türkei und Schweiz als eher dankbare Gegner - wer wartet im Achtelfinale auf Italien?
Bei allem bislang berechtigten Hype um die Azzurri muss aber auch eines beachtet werden: Mit einer überraschend harmlosen Türkei und einer nur sehr selten griffigen Schweiz hat man zwei eher schwache Gegner gehabt. Das wird sich voraussichtlich auch im letzten Gruppenspiel gegen Wales nicht ändern, auch wenn "The Dragons" den ein oder anderen namhaften Spieler in den eigenen Reihen wissen.
Schon jetzt ist Italien für die K.o.-Runde qualifiziert. Die einzige Frage, die noch offen ist: Geht man als Gruppenerster oder Gruppenzweiter ins Achtelfinale? Wird gegen Wales nicht verloren, wird man an der Spitze der Gruppe A stehen. Nur wenn es die überraschende Niederlage geben sollte, wird es Platz zwei.
Die gute Nachricht aus Sicht des Teams: Unabhängig von der Platzierung dürfte, bei allen aktuellen Erwartungen, keine allzu schwere Herausforderung im ersten Endrunden-Spiel warten. Als Erstplatzierter geht es dem Turnierbaum nach gegen den Zweiten der Gruppe C. Dort sind Österreich, die Niederlande, Ukraine sowie Nordmazedonien vertreten.
Trotz eines etwas holprigen Starts bleibt Oranje Favorit auf das Weiterkommen. Ohne Überraschungen dürfte es also entweder gegen Österreich, oder vielleicht auch gegen die Ukraine gehen. Beide wären im direkten Duell keine Favoriten. Selbst gegen die Niederlande wäre Italien selbst Favorit.
Sollte es wider Erwarten der zweite Gruppen-Platz werden, ginge es gegen Platz zwei aus Gruppe B. Während Belgien dort den ersten Rang besetzen dürfte, deutet bislang alles auf Russland oder Finnland auf dem zweiten Platz hinaus. Auch angesichts dieser Gegner gilt der gleiche Grundsatz: Italien wäre der klare Favorit.
Andere mögliche Titelfavoriten überzeugten noch nicht - Italiens Wucht kann auch dann noch Früchte tragen
Doch nicht nur in der eigenen Gruppe und im Achtelfinale scheint noch alles relativ entspannt zu sein. Früher oder später wird es zum Duell gegen ein anderes Team kommen, das als potenzieller EM-Favorit gilt. Mannschaften wie England, Spanien oder auch Frankreich wären zwar erst im weiteren Verlauf des Turniers zu erwarten.
Doch im Gegensatz zur Mancini-Elf haben sie bislang auch noch nicht wirklich überzeugt. England hat nur knapp (1:0) gegen ein sehr schwaches Kroatien gewonnen, Spanien kam nicht über ein 0:0 gegen ein mauerndes Schweden hinaus. Und Frankreich holte sich zwar ziemlich souverän drei Punkte gegen Deutschland ab, muss sich spielerisch aber auch noch beweisen.
Dass andere Teams, die vermutlich ins Viertel- und Halbfinale kommen können, bisher noch nicht richtig in Fahrt kommen, könnte ein zum jetzigen Zeitpunkt noch unterschätzter und noch nicht weit verbreiteter, aber durchaus wichtiger Faktor für den späteren Erfolg sein. Doch zunächst gilt es für Italien, einen Schritt nach dem anderen zu machen.