"Turnt zu viel woanders rum" - Ist die Kritik an Kimmich berechtigt?
Von Dominik Hager
Joshua Kimmich ist in den letzten Jahren zum absoluten Führungsspieler beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft herangereift. Für viele Experten gilt der 26-Jährige als einer der besten zentralen Mittelfeldspieler der Welt. Vor dem entscheidenden Rückspiel gegen Paris Saint-Germain gibt es aber kritische Stimmen in Richtung Kimmich. Im Interview mit dem kicker bemängelten Markus Babbel und Dietmar Hamann defensive und taktische Schwächen beim Nationalspieler.
Wettbewerbsübergreifend wurde die Münchner Defensive in dieser Saison bereits 51 Mal überwunden. Zu viel für einen Klub mit den Ansprüchen von Bayern München. Allerdings bekommt nun keiner der Verteidiger oder Torwart Manuel Neuer sein Fett weg, sondern Joshua Kimmich. Grund hierfür sind die oftmals zu großen Abstände zwischen Abwehr und Mittelfeld.
"Seine Aufgabe ist es primär, der Mannschaft Stabilität zu verleihen", so Hamann, der Kimmich als "übereifrig" bezeichnet. Der Sky-Experte findet, dass Kimmichs defensive Schwächen aufgrund seiner offensiven Akzente oftmals unter den Tisch fallen. "Bei 51 Gegentoren muss man auch den Sechser Kimmich ansprechen", bemängelt er. Markus Babbel sieht dies ähnlich. "Er ist ein fantastischer Spieler, aber er turnt zu viel woanders rum", kritisiert der 48-Jährige.
Nachdem Lothar Matthäus noch verkündete, dass Kimmich derzeit der beste Sechser der Welt sei, muss sich dieser also jetzt auch negatives Feedback anhören. Markus Babbel teilt zudem die Meinung des 150-maligen Nationalspielers nicht und ernennt Rodri zum besten zentralen Mittelfeldspieler.
Kritisieren Hamann und Babbel den Bayern-Star zurecht?
Doch haben jetzt Dietmar Hamann und Markus Babbel recht mit ihrer Kritik? Zuerst einmal lässt sich sagen, dass die beiden aufgrund ihrer Vergangenheit ein ganz anderes Bild auf das Spiel haben. Während Babbel als Innenverteidiger fast ausschließlich defensive Pflichten hatte, war Hamann ebenfalls ein defensiv eingestellter Arbeiter im Mittelfeld. Dies unterscheidet sich aber komplett von dem, was Hansi Flick bei den Bayern sehen will. Der Trainer hat sich bewusst für eine offensive Taktik entschieden, die eine höhere Anzahl an Gegentoren in Kauf nimmt. Rentiert hat sich diese Herangehensweise aber dennoch fast immer. Man denke nur an die zahlreichen Titelgewinne und glanzvolle Siege wie das 7:2 gegen Barcelona.
Selbst gegen Paris Saint-Germain hätte sich die Taktik bei einer normalen Chancenauswertung bezahlt gemacht. Man kann also davon ausgehen, dass Kimmich genau das macht, was Hansi Flick ihm aufträgt. Ansonsten hätte er mit Sicherheit auch schon den ein oder anderen Einlauf vom Coach kassiert. Dieser weiß jedoch, dass es im Fußball vor allem entscheidend ist, die Stärken der Akteure auszunutzen. Kimmich ist kein reiner Stratege wie früher ein Sergio Busquets oder ein Rodri, die nur darauf bedacht sind, das Spiel aus einer tiefen zentralen Position zu eröffnen. Der Bayern-Star ist vielmehr auch ein toller Vorlagengeber, der klasse Pässe und Flanken aus dem Halbfeld spielen kann. Aufgrund dieser Qualitäten hat der 26-Jährige in dieser Saison bereits 14 Torvorlagen gegeben. Man kann davon ausgehen, dass diese Zahl für einen Sechser fast einmalig ist. Um so viele Scorerpunkte zu generieren, muss er seine zentrale Position im Mittelfeld nun mal ab und an verlassen.
Ein offensiver Kimmich zahlt sich aus
Im Endeffekt kann man bei der offensiven Spielweise von Kimmich eine Gewinn-Verlust-Gleichung aufstellen. Letztendlich geht es nämlich darum, dass die Anzahl der mehr erzielten Tore über der Anzahl der mehr erhaltenen Gegentore liegt. Vergleichbar ist dies mit der Spielweise von Manuel Neuer, der durch sein häufiges Herauslaufen schon zahlreiche Tore verhindert, aber auch schon unnötige Treffer kassiert hat. Wie beim Bayern-Torwart dürfte die Gleichung aber auch bei Kimmich positiv ausfallen. Der Vorwurf der "Übereifrigkeit" von Hamann ist ebenfalls etwas fehl am Platz. Kimmich muss diese Übereifrigkeit mitbringen, um seinen defensiven und offensiven Aufgaben überhaupt im Ansatz gerecht werden zu können.
Der frühere Stuttgarter hat es gerade seinem Eifer und seinem Willen zu verdanken, dass er da steht, wo er steht. Es liegt einfach in der Natur des Spielers, dass er in jeder Situation vorangeht und defensiv und offensiv Vollgas gibt. Ein solcher von Ehrgeiz getriebener Spieler kann sich nicht zurücknehmen. Das ist ein wenig so, als würde man ein heißblütiges Rennpferd zum Dressurreiten zwingen.
In diesen Punkten kann sich Kimmich noch verbessern
Ganz neu ist für Joshua Kimmich Kritik jedoch auch nicht. Der Münchner wurde bereits in jüngeren Jahren für sein Anspruch, ein Leader zu sein, belächelt. Doch der Mittelfeldspieler hörte nicht auf die Aufforderungen, einen Gang runter zu fahren und ging seinen Weg entschlossen weiter. Wie wir heute wissen, hat er damit genau das Richtige getan. All das heißt jedoch nicht, dass man Kimmich von sämtlicher Kritik freisprechen muss. Es geht viel mehr darum, dass sich der Bayern-Star nicht verändert, sondern in manchen Punkten verbessert.
Hierzu gehört zum Beispiel die richtige Entscheidungsfindung bei der Frage, wann es Sinn macht, mit nach vorne zu gehen. Zudem kann sich er sich auch bei seinen Tacklings noch verbessern. In der laufenden Saison waren laut ligainsider.de lediglich 27 Prozent seiner Tacklings erfolgreich. Zudem hat er auch in den Punkten Antizipation und Balleroberungen Luft nach oben. In einigen Situationen könnte Kimmich sein Spiel durch ein geschicktes Stellungsspiel und sauberen, auf den Ball ausgerichteten, Zweikampfaktionen also noch verbessern.
Allerdings ist all das natürlich Kritik auf hohem Niveau. Einen zentralen Mittelfeldspieler, der offensiv und defensiv gleichermaßen überragend ist, wird man nicht finden. Dafür ist die Position zu komplex. Kimmich ist ohnehin schon einer der komplettesten Spieler in dieser Rolle.