Zur Zeit macht es Spaß, HSV-Fan zu sein!
Von Guido Müller
Die Dynamik des Spiels (und einer Saison) bringt es mit sich, dass man beim Fachsimpeln über Fußball (im Allgemeinen) oder über diesen oder jenen Verein (im Speziellen) einzelne Spiele als Basis seiner Argumentation heranziehen kann, ohne dass einem der Vorwurf gemacht werden könnte, tendenziös zu agieren. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Kritiker einer bestimmten Meinung schon am nächsten Spieltag wieder die Oberhand bezüglich der (zwischenzeitlichen) Deutungshoheit gewinnen können. Das gilt ganz besonders für den Hamburger SV.
Auch vor dem von vielen als wegweisend deklarierten Spiel gegen den Jahn aus Regensburg gab es in den einschlägigen Foren jede Menge Unker und Schwarzseher. Der Beginn der Abwärtsdynamik wurde da genauso an die Wand gemalt, wie das Szenario der ernüchternden Erkenntnis, dass es mit diesem Kader höchstens zu einer Endplatzierung im Mittelfeld der Tabelle reichen werde.
Vielleicht haben sie am Ende ja auch recht. Doch aktuell sieht es eher nach weit Positiverem aus. Der HSV musste im Spiel gegen den Tabellenzweiten aus Regensburg ohne drei der fünf etatmäßigen Defensivleute (Heuer Fernandes, Leibold, David) auskommen. Zudem fehlten weiterhin die im Aufbautraining befindlichen Stephan Ambrosius und Josha Vagnoman.
Neu zusammengestellte Mannschaft - ohne Stars! - zeigt beste Saison-Leistung
Und dann gelingt dieser völlig neu formierten Mannschaft von Anfang an eines der besten Spiele seit Beginn der Zweitliga-Zugehörigkeit. Und wenn man genau hinguckt, sieht man - keinen einzigen Star auf dem Platz!
Mit "Star" meine ich in diesem Fall die aus den Vorjahren bekannten großen Namen, an denen man wochen- oder monatelang gebaggert und schließlich, für viel Kohle, in den Volkspark gelockt hatte. Nur um dann zu merken, dass besagte Spieler diese Star-Rolle gar nicht beansprucht haben und somit auch gar nicht erfüllen konnten.
Der Star ist jetzt die Mannschaft. Und aus dieser heraus entwickeln sich jetzt vielleicht die Cracks der Zukunft.
Ein Faride Alidou ist gerade auf dem Weg dorthin. Jonas David ist es schon seit etwas längerer Zeit. Ambrosius und Vagnoman sowieso. Andere, wie Anssi Suhonen oder die Nachwuchskicker, die vor Kurzem sieben Tore gegen einen dänischen Erstligisten zustande gebracht haben, könnten folgen.
Ich muss sagen: Zum ersten Mal seit Zweitliga-Zeitrechnung fühle ich mich wohl als Fan dieses Vereins. Die bisher eingefahrenen 23 Punkte sind zum größten Teil nicht, wie in den Vorjahren, ausschließlich der Treffsicherheit einer Zweitliga-Legende wie Simon Terodde oder der Wucht eines Pierre-Michel Lasogga oder Joel Pohjanpalo geschuldet, sondern einem gut harmonierenden Kollektiv, in dem jeder mittlerweile weiß, was er zu tun hat.
Dies wiederum ist freilich mit viel Laufbereitschaft verbunden. Legen ein, zwei Spieler diese nicht an den Tag, wird es sofort wieder eng. Doch Tim Walter scheint diese Notwendigkeit des läuferischen Aufwands seiner Truppe verinnerlicht zu haben.
Jeder Spieler ist vom eingeschlagenen Weg überzeugt
Gegen Regensburg war das ganze Team über so gut wie die kompletten neunzig Minuten in Bewegung, hat rochiert, hat gewechselt, ist kurz gekommen und lang gegangen, hat sich gezeigt und angeboten - durch die Bank weg.
Die dabei an den Tag gelegte Ballsicherheit war bisweilen fast schon erstaunlich. Jeder Spieler schien von der vom Trainer vorgegebenen Idee überzeugt zu sein, und zu wissen, was in so gut wie jedem Moment zu tun oder zu lassen ist.
Natürlich gibt es - wir reden hier immer noch über die Zweite Liga - hier und da mal den einen Schlänker oder Haken zu viel, scheinen sich die Jungs, vor allem in den guten Phasen, fast an sich selbst zu berauschen, oder werden Dinge zu unsauber gelöst.
Das wird es auch weiterhin in so gut wie jedem Spiel geben. Die Perfektion mögen die Leute bitte eine Etage höher suchen. Finden werden sie sie dort allerdings auch nicht. Was auch gut ist - aber ich schweife ab.
Die absolute Überzeugung zu haben (und zu leben), dass der eingeschlagene Weg richtig ist, ist jedenfalls schon mal eine sehr, sehr gute Ausgangslage. Vor allem deshalb, weil eine solche Überzeugung sich auch dann positiv auswirkt, wenn personelle Änderungen greifen. Wenn das System gut genug ist, ist das Personal (und eine gewisse Grundqualität haben HSV-Spieler ja von Haus aus!) fast schon egal.
Ich wette, wenn Walter jetzt noch einen Ersatz für den immer stärker werdenden Leibold-Ersatz Muheim bräuchte, würde er den auch irgendwie herbeizaubern. Und zwar aus den mittlerweile wieder spannenden Tiefen der HSV-Nachwuchsarbeit.
Gute Aussichten, was die Infrastruktur betrifft
Das ist nämlich ein weiterer wesentlicher Grund meiner guten Grundstimmung. Die personelle Infrastruktur. Bei Profis und Nachwuchs. Und die nochmals (auch aus finanziellen Zwängen heraus) forcierte Durchlässigkeit zwischen beiden Welten.
Mit Stephan Ambrosius, Josha Vagnoman und Jonas David stehen bereits drei Quasi-Eigengewächse (die Kindheitstage der drei in St. Pauli, Poppenbüttel oder Norderstedt lassen wir mal geflissentlich unter den Tisch fallen), allesamt Hamburger Jungs, in der ersten Reihe.
Diese Saison haben sich Anssi Suhonen und Faride Alidou dazugesellt (ok, der Finne ist nicht in Hamburg geboren, aber in der Hansestadt - wie einst John Lennon - zum Mann geworden).
Beim Test gegen Nordsjaelland vor zehn Tagen haben mit Elijah Krahn, Luis Seifert, Felix Paschke (allesamt aus der U19), Bent Andresen oder Arlind Rexhepi noch einige weitere Spieler aus dem Unterbau mehr als nur angedeutet, in Zukunft eine wesentliche Rolle im Kampf zurück in die Bundesliga (der vielleicht auch im Mai 2022 noch nicht geschafft ist) spielen zu können.
Die Zweite Mannschaft, um Spieler wie Simbabwes Jungnationalspieler Jonah Fabisch (neben den genannten Andresen und Rexhepi), ist zudem seit vier Spielen ungeschlagen, gewann zuletzt zweimal in Folge 3:0 und hat allerbeste Aussichten, an der Aufstiegsrunde zur Dritten Liga teilzunehmen.
Der verliehene Aaron Opoku macht es mit acht Torvorlagen in zwölf Spielen zur Zeit auch nicht so schlecht beim Drittligisten VfL Osnabrück.
Gradmesser Ingolstadt
Glänzende Perspektiven also auch für die mittlere und fernere Zukunft - just während des vielleicht ersten großen Hochs dieser für mich bislang schönsten Zweitliga-Saison. Sollte man das schwere Spiel gegen den FC Ingolstadt nächsten Sonntag auch noch gewinnen - die Euphorie würde dann wohl fast schon wieder ungesunde Züge annehmen.
Ich sage das völlig ohne Häme oder Ironie. Denn das Spiel gegen den Tabellenletzten - es wird tatsächlich das schwerste Spiel der Saison. Nicht nur, weil es das nächste ist, sondern auch, weil die Fallhöhe bei solchen Duellen immer so hoch ist. Und die HSV-Mannschaften der letzten Jahre kamen damit meistens nicht zurecht. Die "Stars" hatten dann immer regelmäßig Angst, vom Himmel zu fallen. Und fielen dann auch.
Jetzt hat man (noch) keine Stars - und entsprechend macht sich die Truppe keinen Kopf über Fallhöhen oder ähnliches, sondern spielt einfach das, was Trainer und Fans von ihr sehen wollen. Ein Rezept, so einfach wie gleichzeitig genial.
Hätte man vielleicht auch eher drauf kommen können.