Trotz Horrorvorstellung in Aue: Beim HSV ist alles noch im Grünen Bereich
Von Guido Müller
Ja, über das "Scheißspiel" (O-Ton Tim Walter), das der Hamburger SV beim Tabellenletzten Erzgebirge Aue am vergangenen Freitagabend (1:1) abgeliefert hat, muss natürlich geredet werden. Und zwar deutlich. Genug Zeit ist angesichts der anstehenden Länderspielpause ja auch durchaus vorhanden. Doch sollte man bei aller berechtigten Kritik auch gewisse Lichtblicke nicht unerwähnt lassen.
Denn zunächst einmal hält sich der Abstand zu den Spitzenteams der Liga noch in einem vertretbaren Rahmen. Gerade mal fünf Punkte ist der Stadtrivale (und aktuelle Tabellenführer) St. Pauli den Rothosen zur Zeit enteilt. In anderen Worten: hätte der HSV das Derby am dritten Spieltag gewonnen, wäre er jetzt vor den Braunen.
Hätte, hätte, Fahrradkette, mag man da erwidern. Es bleibt aber ein Fakt. Auch wenn zur Wahrheit ebenso gehört, dass es der HSV an jenem Augustabend schlichtweg nicht verdient hatte, einen Dreier aus dem Millerntorstadion mitzunehmen.
Punkteausbeute nicht wesentlich schlechter als in den Vorjahren
Fakt ist auch, dass der Hamburger SV in den vorherigen Zweitliga-Jahren zum selben Saison-Zeitpunkt wie jetzt durchaus ähnliche Zwischenbilanzen vorzuweisen hatte: In der Spielzeit 2018/19 lag man, mit 17 Punkten (gegenüber den aktuell 14 Zählern) und zwei Punkten Rückstand auf Tabellenführer Köln, an dritter Stellte.
Jedoch hatte man damals bereits zwei Heimniederlagen - und zwar von der krachenden Sorte - erlitten (0:3 gegen Kiel und 0:5 gegen Regensburg), die letzten Endes den Anfang vom Ende von Trainer Christian Titz einläuteten.
Ein Jahr später, unter Trainer Dieter Hecking, stand der HSV (mit 20 Punkten) dann auf Platz eins. Doch erneut nicht ganz makellos: zwei Unentschieden und die offenbar obligatorische Niederlage beim Stadtrivalen trübten ein wenig die ansonsten hervorragende Zwischenbilanz.
Unter Daniel Thioune wurden gar die ersten fünf Spiele der letzten Saison allesamt gewonnen, bevor zwei Remis (in Kiel und zuhause gegen die Kiez-Kicker) einen Abwärtstrend einleiteten, der sich mit drei Niederlagen in den folgenden drei Spielen dann auch bestätigte.
Nach neun Spieltagen stand für den Walter-Vorgänger eine Ausbeute von 17 Zählern und der damit verbundene dritte Tabellenplatz zu Buche. Also auch nur drei Punkte mehr als derzeit.
Doch was war nochmal allen drei bisherigen Zweitliga-Spielzeiten des HSV gemein? Genau: am Ende stand immer der Nichtaufstieg. Und das obwohl die Mannschaft in allen drei Saisonfinals Chancen en masse auf dem Silbertablett präsentiert bekam.
Von daher würde man den nach dem katastrophalen Aue-Kick nun wieder sehr laut werdenden Bedenkenträgern und Dauerpessimisten einfach mal zurufen wollen: immer cool bleiben - und vor allem: geduldig.
Dass der HSV in diesem Jahr keine Mannschaft haben würde, die mal eben locker-flockig durch die Zweite Liga schwebt und fast alle Gegner in Grund und Boden spielt, war allen Beteiligten schon vor dieser Saison klar.
Übrigens: eine solche Mannschaft hat es im Unterhaus in den letzten Jahrzehnten sowieso nie gegeben.
Doch ich muss sagen: nach den vorangegangenen Enttäuschungen war ich in diesem Sommer mehr als skeptisch - und bin nach einem Viertel der Saison tatsächlich eher positiv überrascht.
Ja, wirklich dominant und über jeden Zweifel erhaben, hat der HSV in dieser Spielzeit bislang noch kein Spiel über die neunzig Minuten absolviert. Jeweils eine gute Stunde bei den Auswärtsspielen in Gelsenkirchen und in Bremen reichten für zwei der bisherigen drei Saisonsiege.
Der dritte Dreier schließlich war das Produkt großer nervlicher Stärke, als man auf den Schock des späten Ausgleichstreffers der Sandhäuser doch noch mit dem Siegtreffer in der sechsten Minute der Nachspielzeit antworten konnte.
Mannschaft wirkt beharrlicher
Und damit ist auch schon das Stichwort genannt: der HSV der Saison 2021/22 scheint insgesamt beharrlicher zu sein als in vergangenen Jahren. Rückschläge wie kurz vor Schluss kassierte Gegentore (wie gegen den SVS) oder wie aus dem Nichts entstandene Führungstreffer der Gegner (Darmstadt, Nürnberg) werden von der Mannschaft regelmäßig gut weggesteckt und zumeist auch beantwortet.
Natürlich kann ein in letzter Sekunde gewonnener Punkt beim bis dato sieglosen Kellerkind nicht dafür taugen, mit stolzgeschwellter Brust durch die Gegend zu laufen.
Aber ist es nicht auch eine Qualität, in so einem Spiel (dem mit Abstand schlechtesten unter Trainer Walter) dann wenigstens noch den Minimal-Ertrag von einem Zähler mitzunehmen? Immerhin hatte die Mannschaft in Aue selbst in der 94. Minute noch die Ruhe weg, den Ball kombinatorisch nach vorne zu tragen, statt nur noch hohe Bälle in den gegnerischen Strafraum zu schlagen.
Und sie wurde für diese Beharrlichkeit am Ende auch belohnt, auch wenn das Eigentor von Aues Abwehrspieler Dirk Carlson an Slapstick kaum noch zu überbieten sein dürfte.
Zu neunzig Prozent an diesem Tor beteiligt war ausgerechnet die bis dahin noch nicht in Erscheinung getretene Leihgabe von Manchester City: Tommy Doyle.
Der wurde in der 86. Minute mit der undankbaren Aufgabe ins Spiel genommen, in seinen ersten Einsatzminuten mal gleich für ein wichtiges Tor zu sorgen. Und tatsächlich nutzte der 19-jährige Engländer die Gunst der Stunde. Frei nach dem Motto: du hast keine Chance - also ergreife sie!
Eine tabellarische Situation, die sich nicht dramatisch von den Vorjahren unterscheidet, eine Truppe, die wöchentlich mehr zu sich findet und ein endlich den Zweitliga-Verhältnissen angepasster Spielstil (bei allem Risiko, den der sogenannte Walter-Ball mit sich bringt!) lassen in mir jedenfalls ganz zarte Hoffnungsschimmer aufkommen, dass mit dieser Mannschaft in dieser Saison noch einiges möglich ist.