HSV: Von unbeantworteten Fragen zu unverhofften Antworten
Von Guido Müller
Wie erbarmungslos der Fußballsport bisweilen sein kann, konnte man gestern im Volkspark beobachten. Denn etwa zehn wirklich schlechte Minuten des HSV hätten ihn beinahe um den Ertrag für eine über achtzig Minuten hinweg gute Leistung gebracht. Doch am Ende konnten sich die Rothosen doch noch belohnen.
Die Umstände um den plötzlichen Bruch, ausgerechnet kurz nachdem man sich durch das Führungstor von Kinsombi eigentlich in eine ideale Konstellation (numerische Überlegenheit inklusive!) gebracht hatte, geben jedoch zu denken. Und es muss über sie geredet werden.
Und zwar aufgrund ihres Wiederholungs-Charakters. Denn es ist wahrlich bemerkenswert (und tief blicken lassend), dass es mich schon gar nicht mehr überrascht hatte.
Sofort nach Kinsos Elfmetertor zum 1:0, also unmittelbar nachdem der HSV seinen siebzigminütigen Anlauf, in Führung zu gehen, endlich von Erfolg gekrönt sah, sagte ich, aus leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit heraus, zu meinem Tischnachbarn: jetzt werden sie wieder versuchen, den Vorsprung nur noch und irgendwie über die Zeit zu retten.
Verteidigen ja - wenn man´s kann!
Dagegen ist ja eigentlich auch nichts zu einzuwenden. Es kommt halt immer darauf an, wie man es macht. Und mit Sicherheit ist die vom HSV in den letzten Jahren viel zu oft gewählte Variante, einen Vorsprung zu verteidigen, nicht die ratsamste.
Zumindest mit dem Spielermaterial, das der HSV hat. Ja, wenn wir defensiv ein kaum zu bezwingendes, uneinnehmbares Bollwerk wären - dann könnte ich ja verstehen, dass man seine Angriffsbemühungen nach einer (zumal späten) Führung etwas zurückschraubt. Soll sich doch der Gegner müde spielen beim Versuch, den Ausgleich zu erzielen. Stichwort: eiskalt auskontern.
Doch welche Mannschaften haben dieses Spielermaterial bzw dieses Niveau? Die Top Flights der Champions League. Und selbst da gibt es noch Unterschiede. Aber ganz sicher nicht der HSV, der nun in sein viertes Zweitliga-Jahr geht.
Warum also, um Himmels willen, machen die HSV-Teams, egal in welcher personellen Zusammensetzung und egal von welchem Übungsleiter sie angeführt werden, immer wieder den selben Fehler?
Der Faktor Angst
Warum wird nach einer Führung nicht einfach so weiter gespielt, wie noch vor dem eigenen Torerfolg? Offenbar finden selbst die Spieler darauf nur selten eine befriedigende Antwort. Vielleicht auch, weil es nicht imagefördernd ist, die Angst vorm Versagen einzugestehen.
Denn nichts anderes kann dahinter stecken. Solange du, wie gestern, bei einem torlosen Zwischenstand versuchst, endlich in Führung zu gehen, bist du als Spieler offenbar so sehr darauf fokussiert, dass du gar nicht anders kannst als nach vorne zu marschieren. Immer und immer wieder - bis man halt in Führung geht. Angst spielt in solchen Phasen eine eher untergeordnete Rolle.
Doch genau in dem Moment, in dem es dir gelingt, das Zwischenziel Führung zu erreichen, kommen auf einmal Verlustängste hinzu. Die vorher ja nicht da sein konnten, weil du noch nichts hattest, das du hättest verlieren können.
Aber genau in diesem Moment müsste eigentlich ein anderer Mechanismus einsetzen, als es in so vielen HSV-Spielen der letzten drei Zweitliga-Jahren der Fall war.
Warum wohl habe ich gestern zwischen der 72. (Kinsombis Führung) und der 88. Minute (Sandhäuser Ausgleich) so oft an Jürgen Klopp denken müssen? Ganz klar: wegen seines berühmten, aus einem Werbespot stammenden Satzes, demzufolge es immer besser sei, Lust aufs Gewinnen zu haben statt Angst vorm Verlieren.
Angst, ein zutiefst menschlicher und für die Entwicklung der Menschheit insgesamt auch zweifellos hochgradig wichtiger Urinstinkt, bringt im konkreten Kontext eines Fußballspiels herzlich wenig.
Angst, zumal die des Typus Versagens-oder Verlustangst, lähmt - und gelähmt kannst du weder Zuspiele annehmen, noch gescheite eigene Pässe schlagen geschweige denn akkurat aufs Tor schießen. Oder auch einfach nur die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt treffen.
Vor allem pflanzt sich Angst in einem so komplexen Gebilde, wie es eine Fußballmannschaft nun mal ist, fort. Der eine steckt sich beim anderen an - bis alle (oder die meisten) von ihr erfasst sind.
In genau diesem Moment, wo ein Spieler instinktiv das Verlangen verspürt, aus Verlustangst heraus nur noch einen status quo (knappe Führung) verteidigen zu wollen, muss ihm jemand sagen: erinnere dich an dieses oder jenes Spiel, in dem wir eine Führung noch verspielt haben, weil wir im Spiel nach vorne nichts mehr zustande gebracht haben.
Weil wir ja meinten, unbedingt nur noch verteidigen zu müssen. Das Absurde: verteidigen, im Sinne von auf die Angriffsbemühungen des Gegners antworten, musste dasselbe Team ja vorher, beim Gleichstand, auch.
Warum also bewertet man den defensiven Aspekt just in dem Moment so unverhältnismäßig, in dem man den Nachweis erbracht hat (Führung erzielt), den Gegner auch ohne besondere Konzentration auf die Defensivarbeit im Griff zu haben?
Oder, anders formuliert: warum spielt man nicht einfach so weiter, wie vor der Führung? Vorteil 1: man hält den Gegner von der gefährlichen Zone fern. Vorteil 2: man selbst wiederum ist sehr viel näher an des Gegners gefährlichen Zone dran.
Doch gestern wurde, wie auf ein unsichtbares Kommando (und ich bin mir ziemlich sicher, dass kein solches Signal vom Trainer gekommen ist) hin, auf einmal der Rhythmus unterbrochen, wurde der Schwung im Spiel nach vorne verlangsamt, wenn nicht gar komplett eingestellt - und auf einmal spielte man Torwart Heuer Fernandes gefühlt dreimal so oft an, wie noch vor der eigenen Führung.
Zusammen mit gewissen qualitativen Defiziten kommt dann das Eine zum Anderen: und plötzlich spielt dich auch eine personell dezimierte Mannschaft, die vorher eigentlich nichts zu bestellen hatte, im eigenen Stadion phasenweise an die Wand.
Im Gegensatz zu Sport.1-Kommentator Oliver Forster, der seine Ungläubigkeit über den Sandhäuser Ausgleich kaum noch in Worte fassen konnte, hat mich das zwischenzeitliche 1:1 nullkommanull überrascht.
Unverhoffte letzte Pointe
Man sah es ja förmlich kommen. Doch Fußball wäre nicht dieses geniale Spiel, dieser faszinierende und in Gänze wohl nie zu verstehende Sport, wenn er selbst in einem solchen Moment wie gestern, etwa zwanzig Minuten nach zehn Uhr abends, nicht noch eine weitere, letzte dramaturgische Wende in petto hätte.
Und wenn ich mich vor Wochen noch ganz allgemein gefragt habe, wann mein geliebter HSV eigentlich das letzte Mal in den Schlusssekunden eines Spiels gewonnen hat (und nicht verloren, was gefühlt viel öfter geschehen ist!), habe ich eine Antwort darauf ausgerechnet in dem Moment bekommen, an dem ich die Frage nur zu stellen mich gar nicht mehr getraut hatte.