HSV-Combeback der Vergessenen - oder: Totgesagte leben länger!
Von Guido Müller
Kleine Quizfrage: Wann bestritt Julian Pollersbeck vor dem Spiel gegen Wehen Wiesbaden sein letztes Zweitliga-Spiel für den Hamburger SV? Antwort: vor mehr als einem Jahr. Konkret am 32. Spieltag der Vorsaison - beim deprimierenden 0:3 gegen den späteren Absteiger FC Ingolstadt. Nicht ganz so lange musste David Kinsombi warten, ehe auch er endlich wieder von Beginn an ran durfte. Und tatsächlich: Beide Spieler zahlten das vom Trainer gegebene Vertrauen mit jeweils starken Leistungen zurück.
Fast mutet sie ein wenig kitschig an, die Geschichte, die Julian Pollersbeck am Sonntag um ein weiteres Kapitel erweitert hat. Im Sommer noch als einer der Hauptschuldigen für den allgemeinen Spannungsabfall innerhalb des Hamburger Kaders im letzten Drittel der vergangenen Saison ausgemacht, stand der Keeper mehrmals schon vor dem endgültigen Aus in der Hansestadt. Doch lose Anfragen von Klubs wie dem FC Porto oder dem FC Augsburg mündeten jeweils nicht in konkrete Angebote. Und so blieb Pollersbeck und musste sich erstmal in der zweiten Mannschaft der Rothosen neu orientieren.
Dort jedoch soll er mit professionellen Ernst seine Situation angenommen haben, was im Winter auch seinen Trainer zu einem ersten vorsichtigen Lob an seinem Keeper veranlasste. Während dieser ganzen Zeit konnte sich die neue Nummer eins im HSV-Tor, Daniel Heuer Fernandes, nie den Status des Unbestrittenen erspielen. Immer wieder wurden seine Schwächen in der Strafraumbeherrschung und auch mit dem Ball am Fuß thematisiert.
Offensichtlich hat nun auch bei Trainer Dieter Hecking ein Sinneswandel eingesetzt. Komplett überzeugend wirkte seine Erklärung für den Torwarttausch aber auch nicht wirklich: "Heuer Fernandes hatte zuletzt drei schwere Spiele, da hat er einen freien Tag bekommen. Ich merke doch im Training, wenn ein Spieler mal müde ist, was in seinem Kopf los ist. Ich kann als Trainer schon beurteilen, wer im Tor zu stehen hat", so der HSV-Coach zur Mopo.
Mit Pollersbeck im Tor in die letzten fünf Spiele?
Da will und kann ihm niemand widersprechen. Doch seine Worte sind durchaus auch dahingehend interpretierbar, dass es sich mit der gestrigen Nominierung Pollersbecks um eine einmalige, situative Entscheidung gehandelt haben könnte. Doch kaum einer in Hamburg glaubt ernsthaft, dass Hecking in den letzten sechs Spielen jetzt das Fass "Konkurrenzkampf im Tor" aufmachen wird. Dafür ist diese Position viel zu neuralgisch - schließlich gilt es ja auch, so bald wie möglich die Automatismen zwischen Torhüter und der vor ihm agierenden Defensivreihe zu koordinieren und zu perfektionieren. Da würde ein wöchentlicher Wechsel im Gehäuse der Hanseaten sicherlich kontraproduktiv wirken.
Des Weiteren hat Pollersbeck am Sonntag eine gute Leistung abgeliefert. Eine sehr gute wäre es geworden, wenn er bei einigen Flankenbällen etwas energischer gehandelt hätte - aber geschenkt. Seine Monsterparaden gegen Kyereh in der ersten und gegen Ajani in der zweiten Hälfte waren maßgeblich mitverantwortlich, dass die Hamburger gestern am Ende einen mühsamen 3:2-Sieg feiern konnte. Von daher ist davon auszugehen, dass der U21-Europameister von 2017 auch in den restlichen fünf Partien im Kasten der Hamburger stehen wird.
Auch David Kinsombi meldet sich aus der Versenkung
Und als ob es mit einer personellen Überraschung nicht genug wäre, meldete sich gestern ein weiterer fast schon in Vergessenheit geratener Akteur eindrucksvoll zurück: David Kinsombi. Man vergisst leicht, gerade in diesen verrückten Zeiten, in denen sich der Zirkus Profi-Fußball immer schneller dreht, dass Kinsombi eigentlich der Hamburger Königstransfer für die laufende Saison war. Der Deal mit dem ehemaligen Kieler wurde noch von Boldts Vorgänger Ralf Becker (früher ja selber bei Holstein als Sportdirektor aktiv) eingefädelt und kostete die klammen Hamburger immerhin stattliche 3,5 Millionen Euro (von denen der Spieler selbst sogar einen Teil gezahlt haben soll).
Drei Tore und eine Vorlage wies Kinsombis Leistungsbilanz vor dem gestrigen Spiel gegen den Tabellenvorletzten auf. Eine dürftige Quote angesichts der Leistungen, die man von dem Deutsch-Kongolesen aus dessen Zeit an der Kieler Förde in Erinnerung hatte. Gerade in den letztjährigen Spielen gegen den HSV hatte der 24-jährige gebürtige Rüdesheimer mächtig aufgetrumpft, insgesamt drei Tore erzielt und eine Vorlage gegeben.
Doch in Hamburg dauerte seine Eingewöhnungszeit länger als erhofft, nicht zuletzt auch durch eine Verletzung zu Beginn der Vorbereitungszeit, die ihn im internen Wettstreit um die Plätze um mehrere Wochen nach hinten warf. Als er dann fit war, hatte sich ein alternatives Gerüst herausgeschält - und Kinsombi hechelte fast die komplette Hinrunde der Musik hinterher. Lediglich in zwei Partien (am 4. und am 5. Spieltag) erhielt er das Vertrauen über die vollen neunzig Minuten.
Die machte er am Sonntag zwar auch nicht voll - doch sein 81-minütiger Startelfeinsatz ließ trotzdem alle Kritiker vorerst verstummen: Zwei blitzsaubere Tore, beinahe im Stil eines echten Mittelstürmers, führten den HSV letztendlich zum überlebensnotwendigen Sieg. Für seinen Trainer keine wirkliche Überraschung. An der Qualität Kinsombis hatte Hecking sowieso nie einen Zweifel gehegt. Mit der Winterpause und vor allem mit der im März über das Land gebrochenen Corona-Krise hatte der Mittelfeldspieler dann auf einmal auch die Möglichkeit, seinen Fitness-Rückstand aufzuholen. Was auch Hecking bestätigt: "Kinso ist natürlich der Matchwinner mit seinen zwei Toren. Er wirkt spritziger, athletischer, in den Zweikämpfen präsenter. Und dass er Tore machen kann, hat er ja auch vorher schon bewiesen." (Quelle. mopo.de)
Trifft Kinsombi jetzt auch gegen seine Ex-Kollegen?
Am kommenden Montag (20.30 Uhr) wird Kinsombi aller Voraussicht nach eine weitere Chance bekommen, seinen Aufwärtstrend zu bestätigen. Gerade gegen den Gegner, der dann das Volksparkstadion besucht, dürfte vor allem seine Expertise gefragt sein: es geht nämlich gegen den Angstgegner des HSV - und Kinsombis vorherigen Klub Holstein Kiel.