Hamburger SV: Das Gerüst unter Tim Walter nimmt Konturen an

Hat schon an einigen Stellschrauben gedreht: Tim Walter
Hat schon an einigen Stellschrauben gedreht: Tim Walter / Cathrin Mueller/Getty Images
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Ungeschlagen ist der Hamburger SV durch seine diesjährige Vorbereitungsphase gegangen. Zugegeben: die Gegner waren allesamt keine absoluten Hochkaräter - und auch letztes Jahr war man in der Hansestadt ob der Testspielergebnisse vor dem Saisonstart optimistisch. Bis das Pokalspiel in Dresden (1:4) kam.


Von daher gebietet es schon die auf Erfahrung basierende Vernunft, auch nach drei Zu-Null-Siegen (gegen Wacker Innsbruck, Silkeborg und am Wochenende gegen den FC Basel) sowie einem Remis gegen Augsburg (2:2) die Euphorie in Grenzen zu halten.

Vorbereitung ist das eine, Wettkampf-Modus das andere

Vor Jahresfrist hießen die beiden letzten Testspielgegner übrigens Feyenoord Rotterdam und Hertha BSC - und nach zwei Siegen ohne Gegentor (1:0 und 2:0) hing der Himmel über Hamburg schon wieder voller Geigen.

Neun Tage nach dem Sieg gegen die Alte Dame holten dann motivierte Drittligisten aus Dresden all die, die es mit der Raute halten, wieder aus allen Wolken.

Doch der Blick sollte im Fußball (wie generell im Leben) eigentlich immer nach vorne gerichtet sein. Und tatsächlich gibt es aktuell einige Gründe, zumindest mit gedämpften Optimismus in die Saison 2021/22 zu gehen.

Da wäre zunächst der Trainer zu nennen: Tim Walter. Viele HSV-Fans konnten mit seiner Verpflichtung erstmal nicht soviel anfangen. Und seine unvollendeten Projekte in Kiel und Stuttgart schienen den Kritikern auch vermeintlich genügend Argumente an die Hand zu geben, um sein vorzeitiges Scheitern am Volkspark zu prognostizieren.

Doch bislang erscheint der 45-Jährige als jemand, der mit Eifer und ohne falsche Rücksichtnahme die Herkulesaufgabe anpackt, den Augiasstall im Volkspark mal so richtig auszumisten.

Nicht nur, dass er mit einem gegenüber seinem Vorgänger erheblich intensiveren Trainingsvolumen daherkommt (einschließlich kleiner Bestrafungen für Minder-Leistungen!).

Er zeigt sich nach den Eindrücken der bisherigen knapp acht Wochen seiner Amtszeit auch sehr konsequent bei der Umsetzung seiner Pläne.

Exemplarisch lässt sich dies an den Personalien zweier letztjähriger Stammkräfte festmachen: Toni Leistner und Moritz Heyer. Doch dazu später mehr.

Daniel Heuer Fernandes - Nummer eins auf Abruf?

Beginnen wir im Tor. Da sind die Rothosen nach Tom Mickels Schulterverletzung (und einem damit verbundenen mehrwöchigen Ausfall) momentan zwar etwas dünn besetzt, doch dass hier noch was transfertechnisch passiert, scheint beschlossene Sache.

Die aktuelle Nummer eins, Daniel Heuer Fernandes, macht zwar zur Zeit einen guten Eindruck. Im Walter'schen Spielsystem, in dem fast alles spielerisch gelöst werden soll, findet sich der Deutsch-Portugiese auf jeden Fall besser zurecht, als es der zum FC Bayern zurückgekehrte Sven Ulreich getan hätte.

Doch da das Bessere der Feind des Guten ist, kann man von einer Torwart-Verpflichtung in diesem Sommer ausgehen. Vielleicht wird es ja ein weiterer Däne (nach dem ausgeliehenen Mikkel Kaufmann).

Gerüchte um dänischen U21-Keeper

Mediengerüchten zufolge sollen die Hamburger am dänischen U21-Keeper Oliver Christensen (22) interessiert sein. Mehr als das: die Verhandlungen mit Christensens Klub Odense BK sollen schon ziemlich weit gediehen sein.

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Scheiterte mit Dänemark bei der U21-EM erst im Elfmeterschießen am späteren Europameister Deutschland: Oliver Christensen / FERENC ISZA/Getty Images

Eine Ablöseforderung von 2,5 Millionen Euro steht im Raum. Wenn dem so wäre: zugreifen! Christensen wusste bei der U21-EM im Mai zu gefallen. Mit seiner Mannschaft musste er sich der deutschen Auswahl im Viertelfinale erst im Elfmeterschießen beugen. In den drei Vorrundenspielen zuvor (gegen Frankreich, Island und Russland) blieb er sogar ohne Gegentor!

Zweieinhalb Millionen Euro sind für die klammen Hamburger natürlich kein Pappenstiel (de facto, war in Zweitligazeiten nur David Kinsombi teurer!), aber ich schrieb es schon vor einigen Monaten: ein guter Torwart kostet halt.

Ich hätte dementsprechend auch kein Problem damit, wenn man den Königstransfer dieses Sommers auf eben dieser Position realisieren würde. Selbst vier bis fünf Millionen (die man über eventuelle Verkäufe von Dudziak, Vagnoman oder Onana decken könnte) wären meiner Meinung nach nicht zu viel für diese neuralgische Position.

Doch momentan ist Heuer Fernandes immer noch in der Pole Position. Im letzten Test gegen Basel lieferte er solide ab, hatte aber auch ein paar Wackler bei Distanzschüssen der Schweizer. Dass seine Schwächen in der Strafraumbeherrschung nicht zum Vorschein traten, lag auch an seinen Vorderleuten.

Innenverteidigung neu besetzt

Von denen ist vor allem das Innenverteidiger-Duo Jonas David und Sebastian Schonlau zu nennen. Erstgenannter war eigentlich der Top-Kandidat auf eine neuerliche Leihe. Doch sein neuer Coach schien von Anfang an einen Plan mit dem 21-jährigen gebürtigen Hamburger zu haben.

Zunächst einmal überzeugte Walter den Youngster davon, die Herausforderung am Volkspark anzunehmen. Danach redete er ihn in vielen Einzelgesprächen stark. Ergebnis: Jonas David hat einen Riesenschritt in seiner Entwicklung gemacht.

Jonas David, Fabio Kaufmann
Der große Gewinner der Vorbereitung beim HSV: Jonas David (hier im letztjährigen Liga-Spiel gegen Eintracht Braunschweig) / Cathrin Mueller/Getty Images

Entsprechend gab es auch ein Extralob vom Übungsleiter (via Mopo): "Jonas hat viele Dinge, die man braucht: gute Schnelligkeit, Körper, Kopfballspiel, und er ist gut am Ball."

Und er weiß, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Jahren, endlich die volle Unterstützung seines Trainers hinter sich. Fußball ist halt zu 70 Prozent auch Kopfsache...

Hinzu kommt Davids Status als sogenannter Local-Player - der sich für die Identifikation durch die Fans naturgemäß besonders gut eignet. Die eierlegende Wollmilchsau, wenn man so will.

Im Verbund mit Sebastian Schonlau scheint der HSV hier, in der defensiven Zentrale, bereits seine Formation gefunden zu haben. Mit Stephan Ambrosius und Maximilian Rohr (oder auch Moritz Heyer) hat man zudem valide Alternativen in der Hinterhand.

Im Ex-Paderborner Schonlau, der gerne schon im letzten Jahr für den HSV gespielt hätte, hat Walter auch seinen verlängerten Arm auf dem Platz gefunden.

Sebastian Schonlau, Tim Leibold
Gerade erst gekommen - und schon Kapitän: Sebastian Schonlau / Cathrin Mueller/Getty Images

Denn seit letztem Samstag ist klar, dass der 26-Jährige künftig als Mannschaftskapitän fungieren wird.

Der letztjährige "Säulenspieler" Toni Leistner hingegen bekam im letzten Härtetest gegen die Schweizer nur einen Kurzeinsatz von 22 Minuten zugestanden. Leistners Defizite in puncto Schnelligkeit und Spielaufbau sind im System von Tim Walter ganz offensichtlich ein Ausschluss-Grund.

Auf den defensiven Außenbahnen bleibt (vorerst) alles beim Alten

Auf den defensiven Außenbahnen hingegen stehen die Zeichen der Zeit auf Kontinuität. Tim Leibold, stellvertretender Kapitän, wird wohl als Stamm-Linksverteidiger in die Saison starten, hat aber mit Neuzugang Miro Muheim einen ernstzunehmenden Rivalen im Nacken.

Auf der rechten Seite gibt es einen solchen Konkurrenzkampf zur Zeit leider nicht, da sich Josha Vagnoman noch von einem Muskelfaserriss erholt, der ihm schon einen Strich durch seine Rechnung bezüglich einer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio gemacht hat.

Entsprechend hat Jan Gyamerah hier momentan freie Bahn. Ob er diese nutzen kann, wird sich zeigen.

Im defensiven Mittelfeld wiederum wurden durch Walters Ankunft die Karten neu gemischt. Klaus Gjasula, ein weiterer "Säulenspieler" aus der letzten Saison, ist in der Hierarchie der defensiven Mittelfeldspieler ganz nach hinten gerutscht.

Kein Wunder, wenn man sieht, wie stark Neuzugang Jonas Meffert bislang auftritt. Der ehemalige Kieler hat aktuell jedenfalls neben Gjasula auch Moritz Heyer, einen der Dauerbrenner der Vorsaison, hinter sich gelassen und dürfte für den Auftakt bei Schalke 04 (Fr, 20.30 Uh) gesetzt sein.

Jonas Meffert
Überzeugt durch gutes Stellungsspiel und Fleiß: Jonas Meffert / Cathrin Mueller/Getty Images

Im offensiven Mittelfeld wiederum macht die positive Entwicklung des Finnen Anssi Suhonen große Freude. Mit unermüdlichem Einsatz hat sich der 20-Jährige aus seiner langen Talsohle nach seinem Kreuzbandriss im letzten Jahr gekämpft - und darf sich sogar was für den Liga-Auftakt ausrechnen.

Im Verbund mit Ludovit Reis, einem weiteren Neuzugang, könnte er für die Dynamik im Hamburger Mittelfeld sorgen - und so den Rücken für einen Künstler wie Sonny Kittel freihalten, der den Saisonstart verletzungsbedingt jedoch verpassen wird.

Sonny Kittel, Fabio Kaufmann
Fühlt sich in der Zentrale am wohlsten: Sonny Kittel / Cathrin Mueller/Getty Images

Für den weiteren Saisonverlauf halte ich ihn auf der zentralen Position für effektiver als auf der Außenbahn. Dort, in der Mitte, fühlt er sich nach eigenen Angaben auch wohler als auf den sprintintensiven Flügeln.

Dennoch sehe ich auf der Zehn, mittel- bis langfristig, noch Handlungsbedarf. Zumal man bei der Personalie Jeremy Dudziak weiterhin vorsichtig bleiben muss. Der technisch vielleicht brillanteste Spieler im ganzen Kader hat ein großes Problem - nämlich sich selbst.

Denn sein ausgeprägtes Phlegma steht dem begnadeten Fußballer immer wieder im Weg. Ein Verkauf des Deutsch-Tunesiers ist wohl deshalb auch weiterhin nicht definitiv vom Tisch.

Auf den offensiven Außenbahnen dünn besetzt

Einzig im zentralen Sturm scheint der HSV seine Planungen abgeschlossen zu haben. Mit Manuel Wintzheimer, Robert Glatzel und Mikkel Kaufmann hat man drei wuchtige Neuner, dazu mit Robin Meißner einen mehr wuseligen Stürmer im Kader.

Vor allem Wintz zeigt sich (wie schon im vergangenen Jahr) in starker Frühform und schoss die letzten drei Testspiel-Tore des HSV (gegen Augsburg und Basel).

Manuel Wintzheimer
Erzielte die letzten drei Testspiel-Tore der Hamburger: Manuel Wintzheimer / Alexander Scheuber/Getty Images

Blieben noch die offensiven Außen, die zur Zeit dünn gesät sind: sollte Kittel tatsächlich in der offensiven Zentrale agieren, hätte man auf den Außen aktuell nur Bakery Jatta und Aaron Opoku. Bei Letzterem bahnt sich eine weitere Leihe an, während sich beim Publikumsliebling noch zu oft Genie und Wahnsinn abwechseln.

Von der Pace her sicherlich einer der Top-Flights der Zweiten Liga, hapert es beim Gambier noch zu oft an Spielverständnis und Basics (wie der Ballverarbeitung).

Sportvorstand Boldt verweist auf den August

Aber nochmal: Wir befinden uns gerade mal in der zweiten Juli-Hälfte. Es ist jetzt zwei Wochen her, dass Sportvorstand Jonas Boldt gegenüber der Mopo folgende Aussage getätigt hat: "Dass wir uns im offensiven Bereich weiter mit Verstärkungen beschäftigen, ist klar. Mitte, Ende August werden ein paar Sachen aufs Tableau kommen, mit denen man heute noch gar nicht rechnet."

Wobei er relativierend anfügte, sich nicht darauf verlassen zu wollen. Aber das ist auch wiederum ganz normaler Funktionärssprech, da natürlich auch ein Sportvorstand nicht in die Zukunft blicken kann. Wer weiß, welche Konstellationen (durch Verletzungen, kurzfristige Verkäufe etc) sich noch bis zum Ende des Transfermarktes auch bei den anderen Klubs ergeben werden.

Stand heute jedenfalls hat der HSV eine Mannschaft zusammengestellt, die zumindest nicht aussichtslos in das neuerliche Rennen um den Bundesliga-Aufstieg geht. Auch wenn man das A-Wort rund um den Volkspark am besten solange nicht in den Mund nimmt, wie er mathematisch nicht besiegelt ist.