Geboren aus dem Nichts: Wie ich Fan der Three Lions geworden bin
Von Oscar Nolte
Die englische Nationalmannschaft zählt zum engen Favoritenkreis der EURO2020. Das ist das Ergebnis einer stetigen Entwicklung über die vergangenen Jahre und der richtigen Schrauben, an denen gedreht wurde. 2018 haben mich die Three Lions in ihr Boot geholt; eine Geschichte von geschorenen Haaren, fehlender Identität und einem Generationen-Umbruch.
Wir alle suchen nach einer Schublade, in die wir passen können. So ist es auch im Fußball. Wir wachsen mit der Zuneigung für diejenigen auf, die uns in die Wiege gelegt wurden. Doch irgendwann kommt der Punkt, an dem wir uns hinterfragen: passt der Mensch, zu dem ich geworden bin, noch zu der Schublade, in die ich einsortiert wurde?
Entzaubert von Deutschland, abgeholt von England
In einem heißen Sommer in Wien, vor drei Jahren, kam ich an diesen Punkt. Die deutsche Nationalmannschaft, sie ging mir am Arsch vorbei. Irgendwie hat mich der Zauber der WM in Brasilien entzaubert. Ich hatte keine Lust mehr, Fan des deutschen PR-Projekts "Die Mannschaft" zu sein. Und doch war ich rattenscharf auf die anstehende WM. Ich suchte die Schublade, in die ich mich legen wollte.
Doch zuvor musste ich etwas loswerden: meine Haare. Geschoren von meinem Sommerflirt, gebrandmarkt durch die Identität, die ich entwickelt hatte: laut, polarisierend, stilvoll, arrogant, leidenschaftlich und vorlaut. Die Diversität, die Vielschichtigkeit, die Pöbel-Mentalität - ich fand sie im Schoße der englischen Nationalmannschaft. Da war ein Jordan Pickford, scheinbar dem Kult-Film "This is England" entsprungen; da waren Harry Maguires und Jordan Hendersons, rustikale Briten, deren scharfen Akzent mir bereits in den Ohren klang, bevor ich sie sprechen hörte; da waren Marcus Rashfords, Jesse Lingards und Dele Allis, attraktive und progressive Modernisten; da war ein Gareth Southgate und damit ein Gentleman, der die verstreuten Reste der einst so glorreichen englischen Nationalmannschaft aufklauben und wieder zusammenführen konnte. Ja, ich stand auf England, bei dieser WM vor drei Jahren.
Ich erinnere mich an das Elfmeterschießen im Achtelfinale gegen Kolumbien. Ich war zu Gast bei einem Freund, dessen Eltern ich noch nicht kannte und denen ich mich kurzgeschoren und im Unterhemd, tätowiert und angetrunken und grölend vor dem Fernseher vorstellte. 'Wer war der Engländer' fragten seine Eltern später meinen Freund. Und hier war ich: in der Schublade, in die ich hineinpasste.
Englishman in New York und ein scharfer Generationen-Umbruch
Es gibt so vieles, dass mich an England reizt. Der Englishman in New York; das britische Englisch, das in meinen Ohren so wohlklingend ist, wie das leise Rauschen des Meeres; das laute und extrovertierte; London, der Schmelztiegel Europas; die britischen Menschen, die es mir angetan haben. Und natürlich die Geschichten der Three Lions, die ich für mich entdeckte: David Beckham, der die Metrosexualität geprägt hat; Frank Lampard, den ich vergöttert habe; das Motiv der drei Löwen; die schneidigen Trikots; die Unfähigkeit, ein Elfmeterschießen zu gewinnen. In der englischen Nationalmannschaft habe ich ein Zuhause gefunden, das ich besuche, wenn die großen Nationalmannschafts-Turniere anstehen.
Und auch bei dieser EM sind es die Three Lions, mit denen ich zittere und jubele. Gareth Southgate und der englische Verband haben mittlerweile den Generationen-Umbruch gemeistert und trauen es sich, Verantwortung auf die Schultern junger Spieler zu legen. Mit Phil Foden, Jude Bellingham und Jadon Sancho gibt es drei Löwen, denen ich unfassbar gerne beim Kicken zusehe. Mit Harry Kane, Marcus Rashford, Raheem Sterling, Harry Maguire - und, und, und - gibt es gestandene Stars, die England zum Mitfavoriten machen und so wunderbar harmonieren. Mit Jack Grealish oder Kalvin Philipps gibt es Granaten, die ich lange Zeit überhaupt nicht auf dem Schirm hatte.
Das für mich bezaubernde an dieser englischen Mannschaft ist das Gefühl, dass sie aus dem Nichts geboren wurde. Die Premier League entdeckte in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren den globalen Markt für sich und vernachlässigte die Ausbildung der heimischen Talente. Da schien nicht mehr viel zu kommen, in den englischen Nachwuchs-Akademien. Im Hintergrund aber entstand eine goldene Generation und vielleicht ebendeshalb, weil sie sich einfach durchgebissen hat: Harry Kane, Harry Maguire, Jamie Vardy - die wurden allesamt übersehen und haben sich den Weg an die Spitze erkämpft. Phil Foden, der sich bei Manchester City als eines der wenigen englischen Talente bei einem der besten Clubs der Welt durchgesetzt hat - und das trotz unglaublicher Konkurrenz. Und mittlerweile ist diese Aufbruchsstimmung auch in der Premier League aufgekommen! Die Big Six setzt wieder auf englische Spieler, die kleineren Vereine sowieso. Da kommen keine feingeschliffenen und verhätschelten Prinzen, sondern englische Kids, die sich einfach durchbeißen. Diese Mentalität und Professionalität, die beispielsweise Jadon Sancho oder Jude Bellingham an den Tag legen - das ist bewundernswert. Die Kontinuität, mit der unter Gareth Southgate gearbeitet wird - ich stehe drauf.
Mittlerweile sind meine Haare wieder länger und in Wien lebe ich auch nicht mehr; meinen Sommerflirt von damals treffe ich auch nicht mehr. Meine Zuneigung für die Three Lions ist jedoch geblieben. Football's coming home - dafür braucht es keinen englischen Pass, sondern lediglich Leidenschaft und Identität.