Fähnchen dreh dich im Wind: Die Abwehr-Boss-(Schein-)Debatte beim FC Bayern
Von Simon Zimmermann
Anführer, wir brauchen Anführer! Und bitte mit dem Bayern-Gen! Über die Diskussionen zur Abwehr des Rekordmeisters nach der Packung von Gladbach muss man fast schon schmunzeln. Rosarot verklärte Vergangenheit und das übliche Plattitüden-Geschrei sorgen für eine Schein-Diskussion, die einer tatsächlichen Erklärung für existierende Probleme kaum auf die Spur geht.
Kaum gerät der FC Bayern ins Straucheln - wenn auch nur kurz - starten neue Diskussionen. Im Fokus steht nach der 0:5-Klatsche im Pokal gegen Gladbach die Innenverteidigung. War vor dem Spiel noch überall die Rede davon, dass beim Rekordmeister die letztjährigen Platzhirsche David Alaba und Jerome Boateng nicht mehr vermisst werden, drehte sich die Berichterstattung 90 Minuten später um 180 Grad.
Dayot Upamecano hatte zuvor einen rabenschwarzen Tag erwischt. Auch Nebenmann Lucas Hernandez spielte grauenhaft. Es fehlt ein Anführer, ein Abwehrboss - titelt deshalb die Bild. Auch beim 5:2-Sieg gegen Union Berlin setzte es schließlich zwei Gegentore. Ein Abwehrboss, "der die Defensive organisiert und zusammenhält" werde gebraucht.
Lothar Matthäus schlug in seiner Sky-Kolumne in ein ähnliches Horn: "Also auf dem Papier herrscht im Grunde überhaupt kein Grund zur Sorge, was die Defensiv-Zentrale angeht. Allerdings habe ich bei diesen vier [Upamecano, Hernandez, Süle und Pavard, Anm. d. Red.] das Gefühl, dass sie das Bayern-Gen noch nicht permanent so verinnerlicht haben, wie das bei Boateng und Alaba in den letzten Jahren der Fall war. Kompakt, stabil, fast fehlerfrei und in jeder Sekunde den absoluten Siegeswillen ausstrahlen, gepaart mit quasi fehlerfreiem Spiel."
Fehlt in der Bayern-Abwehr ein Anführer?
Was sich zunächst wie das übliche mediale Geschrei und fußballerischen Plattitüden anhört - ist es am Ende auch. Mit kleinen Einschränkungen.
Denn Forderungen nach Platzhirschen, Anführern und Leadern in einem Team werden immer nur dann laut, wenn es mal nicht so läuft. Zum Saisonstart verlief bei den Bayern alles ziemlich reibungslos. Dayot Upamecano war, bis auf ein, zwei kleinere Ausnahmen, auf Anhieb die gesuchte Sofort-Verstärkung für die Abwehr. Niklas Süle blüht unter Julian Nagelsmann wieder auf. Und Lucas Hernandez machte das, wofür Hasan Salihamidzic einst 80 Millionen Euro bereit war zu zahlen: er verteidigte konsequent und kompromisslos.
Und so gerieten die oben genannten ehemaligen Platzhirsche tatsächlich schnell in Vergessenheit. Nagelsmann konnte sich sogar erlauben häufig zu rotieren, ohne dabei die nötige Stabilität zu verlieren. Mal Upamecano und Hernandez, mal Süle und Upermecano, mal Süle und Hernandez. Oder auch mal alle drei zusammen, wenn "Sülinho" auf rechts auswich. Zum Großteil hat es im bisherigen Saisonverlauf funktioniert.
Die Zahlen belegen das: Zehn Gegentore musste der deutsche Abonnement-Meister an den ersten zehn Spieltagen schlucken. Um den Schnitt auszurechnen, braucht es kein Mathe-Studium. Ein Gegentor pro Spiel kassieren die Bayern in der Bundesliga. In der Königsklasse ist die Bilanz noch deutlich beeindruckender. Eine fette Null steht hier nach drei Spielen in der Gegentor-Bilanz.
Nagelsmann sieht das Defensiv-Problem im Gesamtkontext
Dass die Zahlen von individuellen Leistungen kaschiert wurden, weiß auch Nagelsmann. "Wir lassen in sehr vielen Spielen zu viele Chancen zu. Oft ist es so, dass Manu [Neuer, Anm. d. Red.] sehr gut hält und wir deshalb weniger Gegentore bekommen haben", gab er gegenüber der Bild zu Protokoll.
Zu sehen war das etwa in Lissabon, als die Bayern zwar mit 4:0 gewinnen konnten, den Gastgebern aber die ein oder andere gute Chance gewährten. Neuer parierte zweimal exzellent und bewahrte sein Team damit vor dem Rückstand. Beispiele dafür lassen sich auch in vielen anderen Partien finden.
Die Ursache dafür sucht Nagelsmann aber nicht expliziert bei seinen Innenverteidigern. "Wir können uns nicht nur auf ihn und unsere Kette verlassen. Alle elf Spieler müssen sich beteiligen", mahnte der Bayern-Coach an.
Mentalität & Führungsfiguren vs. Rotation & Offensiv-Ansatz
Was genau fehlt also zu mehr defensiver Stabilität? Ist es der generelle Ansatz und das Verhalten des gesamten Teams? Oder braucht es einen Abwehr-Boss à la David Alaba, der im vergangenen Jahr das Sprachrohr in der Bayern-Defensive war?
Dafür lohnt sich zunächst ein erneuter Blick auf das Personal und die Nagelsmann'sche Rotation. Dank dreier starker Innenverteidiger kann er immer wieder durchwechseln und so die Belastung steuern. Für die Eingespieltheit einer Abwehrkette (wozu auch die Außenverteidiger gehören) natürlich nicht optimal. Für die Fitness und Frische der Spieler dagegen schon. Solange es gut geht, werden Nagelsmann und sein Team dafür auch viel Lob kassieren. Geht es schief - wie in Gladbach - dreht sich der Wind.
Bei den Wechseln ist es jedoch schwer, einen echten Abwehr-Boss zu etablieren. Alaba stand unter Flick eigentlich immer auf dem Platz - Upamecano, Süle und Hernandez nicht. Dazu sind sie vom Naturell verbal eher ruhigere Typen. Vor allem Upamecano als Neuzugang und junger Spieler muss sich sein Standing erst noch erarbeiten.
Dennoch hat es zum Großteil in den derzeitigen Konstellationen herausragend funktioniert. Nagelsmann sieht in der Defensiv-Schwäche völlig zurecht ein generelles Problem. Funktioniert die Arbeit gegen den Ball in den Positionen vor der Abwehr nicht perfekt, geraten die Abwehrspieler zwangsläufig in Nöte.
Ähnlich riskant wie unter Flick - nur defensiv etwas stabiler
Das liegt auch im Ansatz der Bayern. Der hat sich im Vergleich zu Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick nicht sonderlich geändert. Der Rekordmeister will Spiele dominieren und ist extrem offensiv ausgerichtet. 3,8 Tore pro Spiel schießt man so in der Bundesliga - in der Champions League sind es immerhin drei Treffer pro Partie.
Um die Offensiv-Wucht auf den Platz zu bringen, geht Nagelsmann ein gewisses Risiko ein. Auch hier kann die Auswärtspartie gegen Benfica als Paradebeispiel herhalten. Die Bayern schieben einen Außenverteidiger immer wieder auf die letzte Linie. In Lissabon war es Pavard, der häufig den Rechtsaußen gab. Die Konsequenz ist, dass die Innenverteidiger häufig in Eins-gegen-eins-Duelle verwickelt werden und dabei sehr hoch stehen.
Einen pfeilschnellen Rafa Silva oder Sturm-Juwel Darwin Nunez so zu verteidigen, wird damit zu einer extrem anspruchsvollen Aufgabe, der sich die Bayern-Defensive noch zum Großteil sehr erfolgreich stellte.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass mit den leichten Anpassungen in der sog. 'Konterabsicherung/Restverteidigung' das Spiel gegen den Ball unter Nagelsmann im Vergleich zur Flick-Zeit verbessert hat. Ein Beleg: Unter Flick kassierte der FC Bayern in der abgelaufenen Meister-Saison knapp 1,3 Gegentore pro Spiel. Nagelsmann ist es dabei gelungen, die Offensivwucht der Bayern zu bewahren.
Und wenn diese ausgespielt werden kann, braucht man sich auch nicht über das ein oder andere Gegentor zu ärgern. Stottert aber auch die Bayern-Offensive mal, wird es zwangsläufig eng. Die Pleite in Gladbach war demnach vor allem ein kollektives Versagen - das die Bayern am Ende auch menschlich erscheinen lässt.
Ärgerlich ist zwar das Pokal-Aus und die schon jetzt verpasste Triple-Chance allemal. Grund dafür, die Alarmglocken schrillen zu lassen, ist sie aber auch nicht. Und erst recht kein Grund, sich im üblichen Geschrei und fußballerischen Plattitüden zu verlieren.
Denn eines ist auch sicher: Der Blick in die Vergangenheit ist oftmals rosarot verklärt. Lieber Lothar Matthäus, liebe Bild, schaut euch bitte nochmal die vergangene Bayern-Saison an. Früher war eben nicht immer alles besser!