Der FC Barcelona nach einer Saison, die dem Urknall folgte: Die Revolution frisst ihre Kinder!
Von Guido Müller
Viel war in den letzten Wochen und Monaten von einem Neuanfang beim FC Barcelona zu hören und zu lesen. Doch im Grunde genommen sollte schon die ganze vergangene Saison ein Aufbruch in neue, bessere Zeiten werden.
Denn nur eineinhalb Monate vor deren Beginn hatte die historische Schmach gegen die Bayern sämtliche Parameter in diesem stolzen, bald 122 Jahre alten Verein verschoben. Die Nachbeben jenes Kataklysmus von Lissabon waren für den Klub - und im Vergleich zum historischen Präzedenzfall am selben Ort, 265 Jahre zuvor - nicht minder umwälzend.
Ähnlich wie im Zuge der realen (und dreifachen) Katastrophe (Erdbeben, Brand und Tsunami), die die Hauptstadt Portugals im November 1755 verheerte, die politische Agenda des Kontinents neu geschrieben wurde und schließlich in die die Welt umwälzenden Ereignisse rund um den Sommer 1789 mündete, schien auch das ancien régime des FC Barcelona von den Zeitläuften einfach hinweggefegt zu werden.
Denn auch ohne dass das aufgebrachte Volk selbst zu den Waffen greifen musste, um den Herrscher mitsamt seinem Gefolge aus seinem Palast zu vertreiben, schien sich der König selbst, Lionel I., der Macht über sein Reich nicht mehr sicher zu sein.
Doch am Ende blieb der König. Mitsamt seiner Familie. Und signalisierte nach gut zehn Monaten Bedenkzeit sogar den Willen, eine weitere Amtszeit draufzulegen. Die Guillotine wurde unterdessen für andere gebraucht.
Ihrer Fakten schaffenden Kraft fiel neben "Premierminister" Bartomeu und einigen seiner Gefolgsleuten natürlich auch der für das Desaster am Tejo verantwortliche "General" Setién zum Opfer.
Und schon bald danach erinnerte man sich in Barcelona, nachdem sich auch der Rauch der (bayrischen) Kanonen verzogen hatte, der glorreichen Vergangenheit holländischer Befehlshaber - und installierte eben jenen niederländischen Feldmarschall, der den Klub knapp drei Jahrzehnte zuvor zum ersten Mal in dessen Geschichte zum Hegemon über den Kontinent gemacht hatte.
Was wird aus Ronald Koeman und welche Rolle nimmt Jordi Cruyff ein?
Doch Ronald Koeman konnte, wie jeder andere Sterblich auch, nie übers Wasser gehen. Und somit auch nicht aus einer abgekämpften Truppe von Soldaten im Rückzugsgefecht eine vor Frische trotzende Armee machen, die im Handstreich neue Territorien erobert.
Immerhin: zur Erringung des nationalen Pokals reichte es noch. Im Militärischen würde man von einem ehrenhaften Rückzug sprechen. Die Schlachten auf den großen Feldern namens LaLiga und Champions League gingen jedenfalls ohne blaurote Beteiligung in ihre entscheidenden Phasen.
Und so fragt man sich während der aktuellen und europaweiten Waffenruhe auf allen Schauplätzen, wie stark das vom neuen Premier (Laporta) übertragene Mandat des Generals wirklich ist.
Die Worte seines Beraters Rob Jansen, nachdem Laporta sich eine zweiwöchige Bedenkzeit zur Entscheidungsfindung ausgebeten hatte, klangen jedenfalls mehr nach nicht erwiderter als nach bedingungsloser Liebe. Dass aus den zwei Wochen dann doch nur eine Woche wurde, macht die Sache nicht wirklich besser.
Zusätzlich wird sich Koeman in der Person von Jordi Cruyff eines potentiellen Widersachers in den eigenen Reihen erwehren müssen.
Welche Rolle jedoch der offiziell als Berater von Laporta installierte Sohn der Vereinslegende praktisch ausfüllen wird, bleibt auch nach den diffusen Erklärungen, er solle sich zukünftig um die Fortführung der von seinem Vater implantierten Philosophie sorgen, weiterhin unklar. Und Unklarheit in der Definition von Kompetenzen war bislang noch für keinen Klub der Welt wirklich erfolgsfördernd.
Den Verdacht, dass er mit Koeman letztlich nur auf Zeit spielt, kann Laporta mit dieser Personalie jedenfalls nicht entkräften.
Genauso wenig wie den bislang nur in Zimmerlautstärke vorgetragenen Vorwurf der Günstlingswirtschaft nach der Berufung seiner Schwester Maite als neuer Chefin der (ebenfalls neu geschaffenen) Abteilung für Inklusion und Diversität. Wie die Mitglieder des Klubs darüber denken, wird sich in zwei Wochen bei der Mitgliederversammlung zeigen.
Neue Konflikte, als Folge des Urknalls vom August vergangenen Jahres, sind somit absehbar. Die Revolution ist weiterhin dabei, ihre Kinder zu fressen. Und ein neuer starker Mann an der Spitze des einstigen Weltreiches nicht in Sicht.
Und über allem thront ein alternder König, der bisweilen, wenn es die Situation erfordert, immer noch an den Potentaten seiner Glanzzeiten erinnern mag, sich aber schon seit längerer Zeit mit Gedanken über die Zeit nach seiner Herrschaft auseinandersetzen muss. Einen Kronprinzen hat er bis heute nicht gefunden. Und das wissen auch auch sein Premier und sein General.