Erneuter HSV-Schock in Kiel: Wenn es der Angstgegner selber nicht gebacken kriegt, hilft man halt mit!
Von Guido Müller
Es soll wohl einfach nicht sein, mit einem Sieg des Hamburger SV gegen Holstein Kiel. Auch im fünften Spiel seit der Zweitligazugehörigkeit gelang den Rothosen gegen die Störche kein Dreier. Und das haben sich die Hamburger, wieder einmal, größtenteils selbst zuzuschreiben.
Denn das Spiel, dass über weite Strecken der ersten Halbzeit nach einem klassischen 0:0 aussah, bekam für die Hamburger kurz vor der Halbzeitpause, zum psychologisch idealen Zeitpunkt, eine positive Wendung.
Das psychologische Momentum nicht genutzt
Um so bedauerlicher, dass daraus in der zweiten Hälfte kein Kapital geschlagen wurde. In einer für mich unverständlichen Art und Weise zogen sich die Mannen von Daniel Thioune nach dem Pausentee zurück, wurden unnötigerweise passiv. Und hielten so das - wenn auch gestern auf kleiner Flamme kochende - Feuer der Hausherren am Lodern.
Vorne den Sack nicht zu gemacht, hinten einmal zu viel gepennt
Und dennoch hätte es auch so locker zu einem Dreier reichen können, ja eigentlich müssen. Die Schlüsselszene war sicherlich der Konter wenige Minuten vor Schluss, als drei Hamburger auf zwei Kieler zuliefen und die vielversprechende Möglichkeit durch fehlendes Timing (zuerst) und schlampiges Passspiel (danach) verdaddelten, wie wir hier oben sagen. Statt mit dem 2:0 den Sack endgültig zuzumachen, ließ man die Hausherren am Leben. Und das ist in der Regel tödlich.
Dass es dann der Aussetzer eines der eingewechselten Spieler war, der die Kieler in der ersten Minute der Nachspielzeit (wieder so ein Murmeltier-Tag-Moment!) passte ins Bild. Denn wäre der HSV fehlerfrei geblieben - die Kieler hätten wohl noch bis heute Vormittag spielen können, ohne einen Treffer zu erzielen.
Thioune erneut mit unglücklichen Auswechslungen
A propos Fehler: die muss sich auch Trainer Daniel Thioune ankreiden lassen. Seine Tendenz, möglichst alle 16 Spieler in den Genuss der Punktspielprämie kommen zu lassen, hat schon gegen den FC St. Pauli beinahe zum Total-Crash geführt.
Damals, gegen den Stadtrivalen, wechselte er mit David Kinsombi, Sonny Kittel und Jeremy Dudziak drei Spieler ein, die in der Folge nicht an die Leistungen der für sie ausgewechselten Hunt, Narey und Wintzheimer herankamen und so gut wie wirkungslos blieben. Trotz des Assist-Punkts, den Dudziak verbuchen konnte und der den Hanseaten am Ende noch einen Punkt sicherte.
Gestern fand ich die Auswechslung von Amadou Onana (für David Kinsombi) schon fragwürdig. Der Belgier war bis zu diesem Zeitpunkt der auffälligste Hamburger, traute sich in vielen Situationen auch mal ein eins gegen eins zu und schuf mit seinen raumgreifenden Schritten ein ums andere Mal Überzahlsituationen in der Gegenbewegung. Kinsombi blieb hingegen, wie schon seit viel zu langer Zeit, erneut blass.
Tja, und dann brachte Thioune in der 77. Minute den späteren Unglücksraben Josha Vagnoman für den bis dahin sehr soliden (und nahezu fehlerfreien) Jan Gyamerah. Ich sage Unglücksrabe, weil Vagnoman sowohl vorne als auch hinten mehr als unglückliche Szenen hatte.
In einer der sich zum Ende des Spiels vermehrenden Kontergelegenheiten vergab er im Duett mit Leistner die mögliche Entscheidung. Und in besagter 91. Minute verteidigte er geradezu dilettantisch einen an und für sich nicht allzu schwierigen langen Ball der Kieler. Mees sagte danke und schoss zum überraschenden 1:1 ein. Und wäre Sven Ulreich nicht gewesen, der mit einem Super-Reflex gegen Serra nur eine Minute später die Führung der Gastgeber verhinderte - die Partie hätte binnen Sekunden einen geradezu grotesken Verlauf genommen und der HSV wäre mit null Punkten nach Hause gefahren.
HSV bleibt trotzdem Tabellenführer
Doch so bitter dieses Déja-vu für den gemeinen HSV-Fan auch sein mag: wirklich Dramatisches ist nicht passiert. Zweimal in Folge hat der HSV nun nicht gewonnen. Aber eben auch nicht verloren. Und die Spiele, von denen wir reden, waren jeweils sehr spezielle. Ein Stadtderby und ein Nord-Derby. So abgedroschen es auch klingen mag, es bewahrheitet sich immer wieder: dieser Typ Spiele hat seine ganz eigenen Gesetze.
Blöd ist es jetzt zusätzlich durch die lange Pause bis zum nächsten Spiel. Zwölf Tage lang wird dieser Last-Minute-Punkteverlust in den Kleider der Fans hängen. In denen der Spieler hoffentlich nicht. Denn es muss die Aufgabe des Trainers sein, das Spiel zwar kritisch und schonungslos aufzuarbeiten, die Mannschaft aber spätestens ab morgen schon wieder auf die nächste anspruchsvolle Aufgabe vorzubereiten. Am Sonntag, den 22. November empfangen die Hanseaten den VfL Bochum.
Thioune muss aus seinen Fehlern lernen - und wird das auch
Dann (und in den darauffolgenden Spielen) wird sich zeigen, was die Lobeshymnen auf den immer noch auf Platz eins thronenden HSV 2020/21 wert waren. Auch und vor allem Daniel Thioune wird gefordert sein, aus seinen Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Fehler machen darf ein jeder. Auch meinetwegen zweimal den selben. Ab dem dritten Mal wird es dann jedoch schon kritisch. Denn spätestens mit dem dritten sieglosen Spiel in Folge wäre der Glanz des "neuen" HSV schon wieder verblasst. Und die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen.
Doch wenn der Trainer eines bislang bewiesen hat, ist es, sich von Rückschlägen zu erholen. Und in der Folge an den richtigen Stellschrauben zu drehen. Wie sah denn das Panorama unter der Anhängerschaft in der Hansestadt aus, als man in Dresden mit 1:4 aus dem Pokal katapultiert wurde? Da sprachen die ersten sogar schon von dem Szenario eines möglichen Abstiegskampfes in der Liga. Davon, dass der HSV nun durchgereicht würde. Die Antwort gab die Mannschaft und ihr Trainer nur vier Tage später mit dem 2:1-Auftaktsieg gegen Absteiger Düsseldorf.
Deshalb sollte man auch jetzt, in der ersten Schwächephase im Punktspielbetrieb, nicht gleich alles in Bausch und Bogen verurteilen. Der Vertrauenskredit, den sich die Truppe mit fünf Siegen aus den ersten sieben Spielen erspielt hat, sollte dafür eigentlich groß genug sein.