EM-Finale zwischen England und Deutschland: Die Schlüsselduelle im Überblick
Am Sonntag um 18 Uhr (live in der ARD, auf sportschau.de sowie bei DAZN) findet die diesjährige Frauen-Europameisterschaft mit dem Finale zwischen Gastgeber England und Deutschland ihren Höhepunkt. Neben mannschaftstaktischen Aspekten wird es im ausverkauften Wembley Stadium zu einigen direkten Schlüsselduellen kommen, die über den Ausgang der Partie entscheiden. 90min nimmt einige der Akteurinnen in den Fokus, auf deren Leistung es im Finale besonders ankommen wird.
1. Millie Bright vs. Alexandra Popp
Alexandra Popp und Millie Bright: Zwei Spielerinnen, die bei diesem Turnier immer wieder Köpfchen bewiesen haben – Popp eher offensiv, Bright defensiv. Die englische Innenverteidigerin steht am Sonntag vor der kniffligen Aufgabe, gegen Alexandra Popp die Lufthoheit zu behalten und ein siebtes Turniertor der Deutschen zu verhindern.
Bright selbst ist auch gefürchtet für ihre Kopfballstärke, gegen Spanien prallte eine Flanke nach der anderen an ihr ab. Bisher steht sie schon bei 27 geklärten Bällen dieses Turnier, zusammen mit der Französin Wendie Renard die meisten. Renard kann ein Lied davon singen, wie schwer es ist, Popp am Toreschießen zu hindern, bei beiden Toren gelang es ihr nicht, vor ihr an den Ball zu kommen. Und Popp lässt sich nicht lange bitten: Sieben Schüsse aufs Tor, sechs Tore, so lautet ihre unglaubliche Bilanz bisher.
Bright ist aber auch für den Spielaufbau Englands eine tragende Figur, kann weite Pässe in die Spitze spielen und war so weit sehr verlässlich. Ihre Pressingresistenz wird im Finale von Popp und Co. nochmal auf die Probe gestellt werden. Wenn es schlecht läuft für England, könnte sie später im Spiel auch auf derselben Position spielen wie Popp: Trainerin Sarina Wiegman hatte sie schon beim Arnold Clark Cup teilweise als Sturmspitze eingesetzt, Bright wurde zusammen mit Alexia Putellas beste Torschützin.
2. Lena Oberdorf vs. Fran Kirby
1,57 Meter gegen 1,74 Meter: Bei dem Duell Oberdorf gegen Kirby ist die Frage nach der Lufthoheit schneller beantwortet. Englands offensive Mittelfeldspielerin Fran Kirby zeichnet sich nicht durch ihre Kopfballstärke, dafür aber durch ihre Technik und Intelligenz aus. Bei der Ballannahme und -verarbeitung erlaubt sie sich kaum einen Fehler und hat das Auge für die Lücken in der gegnerischen Abwehr. Trotz ihrer 1,57 kann sie sich erstaunlich gut gegen größere Gegnerinnen durchsetzen und setzt ihren Körper in direkten Duellen gut ein, um den Ball nach vorne zu bringen.
Das wird auch gegen Lena Oberdorf notwendig sein, auf die die Lobpreisungen nach dem Halbfinale gegen Frankreich nur so einprasselten. Oberdorf ist ein "Zweikampfmonster", wie sie ihre Teamkolleginnen beschreiben – zu Recht: Gegen Österreich gewann sie ganze 80% ihrer Duelle, gegen Frankreich waren es 67 Prozent. Mit nur 20 Jahren ist sie eine kompromisslose Abräumerin vor der Abwehr und nimmt den Gegnerinnen immer wieder den Spielfluss. Allerdings war ihre Passquote im Halbfinale mit 54 Prozent schwach und die Engländerinnen haben in bisherigen Spielen gezeigt, dass sie Fehlpässe gut ausnutzen können, besonders wenn die gegnerische Abwehr noch unsortiert ist. Auf die Fragen, ob Kirby ihre physischen Nachteile gegen Oberdorf mit ihrer Spielintelligenz ausgleichen kann, und ob Oberdorf dem englischen Druck trotzen kann, wird es ankommen.
3. Marina Hegering vs. ihre Verletzung
Eigentlich wären hier die Schlüsselduelle Hegering gegen Mead, White oder Russo zu erwarten. Aber die Bedingung dafür ist erstmal, dass die deutsche Abwehrchefin überhaupt für das Finale komplett fit ist. Nachdem Hegering im Halbfinale ausgewechselt wurde und durch Sara Doorsoun ersetzt wurde, trainierte sie zunächst nur eingeschränkt.
Ihr Ausfall wäre ein herber Schlag für Deutschland, das sich im Turnier sehr auf Hegerings Zweikampfstärke und Antizipation verlassen konnte. Sie kann offensiv mit ihren Diagonalbällen zudem gut Angriffe einleiten und lässt sich sehr selten aus der Ruhe bringen – nur gegen Frankreich, in ihrem bisher vermutlich schwächsten Spiel, unterlief ihr ein uncharakteristischer Fehlpass. Ansonsten aber erfüllt sie die Rolle der Abwehrchefin zu hundert Prozent, auch was die Koordination der Verteidigung angeht.
Nicht eine besonders starke Stürmerin, sondern die Verletzungen sind Hegerings größter Gegner
– wegen einer Fersenverletzung konnte sie den Großteil ihrer 20er nicht konstant Fußball spielen, kam zu einigen Einsätzen, aber hatte die Hoffnung auf die große Karriere eigentlich schon aufgegeben. Nach ihrem Comeback war sie vor der EM erneut verletzt, gerade rechtzeitig folgte die erneute Rückkehr. Es wäre ihr zu wünschen, dass vor dem vielleicht größten Spiel ihrer Karriere ihr Körper mitmacht.
4. Felicitas Rauchs Standards vs. Mary Earps' Strafraumbeherrschung
Die deutsche Linksverteidigerin Felicitas Rauch sorgt mit ihren Ecken und Freistößen immer wieder für Gefahr im gegnerischen Strafraum. Standardsituation könnten auch im Finale der Schlüssel zum Erfolg sein, zumal mit Alexandra Popp und Marina Hegering zwei ausgewiesene Kopfballexpertinnen als Abnehmerinnen auf ihre Chance lauern.
Auf englischer Seite steht Mary Earps bei hohen Bällen besonders im Fokus. Die Torfrau der Lionesses gibt in Sachen Strafraumbeherrschung nicht immer die beste Figur ab. Zuletzt gegen Schweden griff die Keeperin von Manchester United gegen Stina Blackstenius daneben und konnte von Glück reden, dass der Ball an der Latte und nicht hinter der Torlinie landete.
Bei ruhenden Bällen ist im englischen Strafraum daher höchste Alarmstufe geboten. Die Partie am Sonntag in Wembley wäre nicht das erste Finale, das durch einen gut getretenen Standard entschieden wird.
5. Giulia Gwinn vs. Lauren Hemp
DFB-Rechtsverteidigerin Giulia Gwinn spielt bislang ein hervorragendes Turnier. Die Spielerin des FC Bayern lässt sich defensiv kein X für ein U vormachen und hat mit bislang 51,6 Kilometern die längste Laufstrecke aller Akteurinnen des Turniers zurückgelegt.
Im Finale wartet mit Lauren Hemp eine weitere große Herausforderung auf die deutsche Abwehrspielerin. Hemp zählt mit ihren erst 21 Jahren zu den aufregendsten Talenten im Weltfußball und spielt an einem guten Tag jede Gegenspielerin schwindlig. Bislang allerdings konnte die englische Linksaußen noch nicht vollends überzeugen. Hemp gelangen erst zwei Scorerpunkte (beim 8:0 gegen Norwegen), auf ihre spektakulären Tempodribblings, bei denen sie meist von der Außenbahn nach innen zieht und kaum zu stoppen ist, wartete man in den zurückliegenden fünf EM-Begegnungen vergeblich.
Unter Umständen hat sich die Spielerin von Manchester City ihre Kraft fürs Finale aufgehoben. Aber auch eine Lauren Hemp in Topform wird es gegen die bissige Giulia Gwinn schwer haben. Frankreichs Delphine Cascarino kann ein Lied davon singen. Die Französin machte im Halbfinale keinen Stich und wurde nach einer Stunde entnervt ausgewechselt.
6. Leah Williamson vs. der Druck der großen Spiele
Englands Kapitänin Leah Williamson spielt solide und leistet sich keine großen Fehler. Im Finale wird die 25-Jährige Innenverteidigerin wie alle anderen Akteurinnen besonders im Fokus stehen und muss zeigen, dass sie auch unter großem Druck ihre beste Leistung abliefern kann. Genau das könnte zum Problem werden.
Williamson fiel bei ihrem Klub FC Arsenal schon öfter dadurch auf, dass sie in den entscheidenden Partien nur durchwachsene Auftritte hinlegte. Angesichts des ausverkauften Wembley Stadiums und des immensen englischen Zuschauerinteresse erwartet die Nummer 6 der Lionesses das bedeutendste Spiel ihrer Karriere - und damit wohl auch die größte Drucksituation ihrer bisherigen Laufbahn.
7. Die englische Bank vs. die deutsche Bank
Die deutsche Kadertiefe könnte ein entscheidender Faktor auf dem Weg zum EM-Triumph werden. Darin waren sich die meisten Beobachter vor dem Turnier einig und haben Recht behalten. Mit Linda Dallmann, Lena Lattwein, Sidney Lohmann, Jule Brand, inzwischen auch Lea Schüller und vielen weiteren Akteurinnen konnte und kann Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg auf eine Fülle von hochqualifizierten Jokerinnen zurückgreifen.
Dasselbe gilt für Englands Trainerin Sarina Wiegman, die allen voran mit Angreiferin Alessia Russo, aber auch mit Alex Greenwood, Ella Toone oder Chloe Kelly stets für frischen Wind von der Bank sorgen kann. Der Viertelfinalsieg gegen Spanien wäre ohne die Einwechslungen von Russo, Greenwood und Toone sicher nicht zustande gekommen.
Im Finale könnten die Ersatzspielerin das Zünglein an der Waage sein. Wenn es Spitz auf Knopf steht, müssen Wiegman und Voss-Tecklenburg womöglich ein goldenes Händchen beweisen. Die beiden Trainerinnen stehen in Wembley ohnehin mindestens genau im Fokus wie die 22 Spielerinnen auf dem Platz.
8. Sarina Wiegman vs. Martina Voss-Tecklenburg
Zwei Trainerinnen, die mit unterschiedlichen Erwartungen und Wahrnehmungen in das Turnier gestartet waren. Schon bei Wiegmans Ernennung zur englischen Trainerin wurde von manchen leise "It’s coming home" angestimmt. Der Finaleinzug bei der WM und der Sieg bei der Heim-EM mit den Niederlanden weckten große Hoffnungen – kann sie das Heim-Double einfahren?
Martina Voss-Tecklenburg hat da ein Wörtchen mitzureden. Die deutsche Trainerin stand vor der EM durchaus in der Kritik – kein klarer Stil, nur zwei erzielte Tore beim Vorbereitungsturnier "Arnold Clark Cup" und vor allem eine Niederlage gegen Serbien: All das waren Kritikpunkte. Bekanntlich hatten Verletzungen und Covid-Infektionen die Vorbereitung erschwert, aber auch mit den vorhandenen Spielerinnen konnte Deutschland nicht sein Potenzial abrufen.
Angesichts der bisherigen Turnierleistungen gebührt Voss-Tecklenburg Respekt – sie und ihr Trainerteam haben nach den schwachen Spielen im Frühling die richtigen Lehren gezogen. Auch bei der Auswahl von Spielerinnen bewies sie ein goldenes Händchen. Wiegman dagegen hat England einen stringenten Offensivfußball verordnet, mit dem das Team endlich mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Beide Trainerinnen mussten bisher nur auf ein Gegentor reagieren, auch ihre Fähigkeit, im Spiel auf Probleme zu reagieren, wird im Finale getestet werden.
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