Eine Unart, die salonfähig geworden ist: Warum ist eigentlich immer der Trainer schuld?
Von Oscar Nolte
Joachim Löw wird nach seinem unrühmlichen Abschied als Cheftrainer der deutschen Nationalmannschaft derzeit vielerorts durch den Fleischwolf gezogen. Mit differenzierter Kritik hat das nicht mehr viel zu tun. Vielleicht ist es aber auch einfach salonfähig geworden, den Trainer an den Pranger zu stellen. Eine Entwicklung, die mich zu der Frage führt, wer diesen Job in zehn Jahren überhaupt noch machen will?
Vorab eine Frage: Wie viele aktive Trainer kannst du mir nennen, die wirklich unumstritten sind?
Genau.
Es ist einfach, das war es schon immer, einen Sündenbock verantwortlich zu machen. Und es ist salonfähig geworden, dass der Trainer am Ende des Tages den Kopf hinhalten muss. Ich bin zu jung, um wissen zu können, ob diese Unart im Fußball traurige Tradition ist. Ich bin aufgewachsen mit Jürgen Klopp, mit dem der gesamte BVB durch die Hölle gegangen wäre. Kritik, ja. Aber in Dortmund wäre nach einer Niederlage oder nach einer schwachen Saison damals niemand auf die Idee gekommen zu sagen: der Klopp, der muss weg.
Eine Zeit lang dachte ich, dass Klopp der vielleicht einzige Trainer in Europa ist, der unumstritten ist. Bis zur letzten Saison, in der der FC Liverpool nichts auf die Kette gekriegt hat und sich am Ende mit Ach und Krach noch für die Champions League qualifizierte. Dass der halbe Kader verletzt ausgefallen ist, dass eine weltweite Pandemie herrschte, dass mit Virgil van Dijk Klopps wichtigster Spieler die gesamte Spielzeit fehlte, dass der Ex-Dortmunder in den beiden Jahren zuvor sensationell die Champions und die Premier League mit den Reds gewann - das war für einen Augenblick bedeutungslos. Klopp muss raus, schallte es durch das Netz, die Talkrunden im Fernsehen und sogar leise durch Teile Liverpools.
Trainer-Beben: Selbst die Vereine lassen sich mitreißen
Für mich gibt es ihn nicht mehr: den unumstrittenen Trainer. Dabei sollte doch gerade diese Stelle möglichst nachhaltig und konzeptionell besetzt werden. Ich will einen Trainer, der mich auf Sicht verbessert, der für Stabilität, Identität und ein homogenes Gefüge sorgt. Heutzutage ist es selten, wenn ein Trainer überhaupt auch nur drei Jahre bei einem Club "überlebt". Das verstehe ich nicht.
All die Faktoren, die ein Trainer nicht oder kaum beeinflussen kann, holen ihn irgendwann wieder ein. Dann spielt es keine Rolle mehr, dass der Verein die Star-Spieler nicht halten konnte, dass es Verletzungen oder auch einfach mal ein Formloch innerhalb der Mannschaft gab. Am Ende muss der Coach seinen Hut nehmen.
Wir sind sogar an dem Punkt angekommen, an dem selbst die Vereine dem massiven öffentlichen Druck nachgeben. Bestes Beispiel: der BVB. Dort hielt man Lucien Favre - völlig zurecht - die Stange. Bis zuletzt stand die Vereinsführung geschlossen hinter dem Schweizer und wollte eine Trainer-Diskussion nicht aufkommen lassen. Dann plötzlich rollte Favres Kopf und der Verein flüchtete sich in das übliche Gewäsch: Saisonziele in Gefahr, neuen Impuls setzen, Mannschaft nicht mehr erreichen, bla, bla, bla.
Sogar van Gaal kritisiert Löw
Ich bin davon überzeugt, dass Joachim Löw der letzte ist, der sich nicht an die eigene Nase packen würde. Der Mann ist nicht auf den Kopf gefallen und weiß, dass die letzten beiden Turniere ein Fiasko waren und dass der ausbleibende Erfolg sicher auch auf einige seiner Fehler zurückzuführen ist. Gut, das ist eben so. Wird ein Kylian Mbappe jetzt aus der Nationalmannschaft geworfen, weil er einen Elfmeter verschossen hat? Nein, am Ende würde auch beim Weltmeister aus Frankreich Didier Deschamps die Verantwortung übernehmen müssen. Es ist ein Märtyrer-Geschäft geworden; kann man es da einem Joachim Löw verdenken, dass er zumindest ruhmreich untergehen wollte und nicht mit einem WM-Aus in einer schwachen Gruppe beim Turnier in Russland vor drei Jahren?
Ich habe heute gesehen, dass Louis van Gaal scharfe Kritik an Löw geäußert hat. Van Gaal, der seit - wann eigentlich? - nicht mehr als Trainer gearbeitet hat und nichts, wirklich gar nichts mit der Arbeit beim DFB am Hut hat. Wie schon gesagt: es ist leicht geworden, salonfähig, Trainer auf die Schlachtbank zu führen. Gareth Southgate, Vladimir Petkovic: noch vor wenigen Wochen wurde deren Rausschmiss gefordert. Zu langweilig, leblos, erfolglos. Petkovic gilt mittlerweile als der vielleicht erfolgreichste Trainer aller Zeiten bei der Schweizer Nati und Gareth Southgate könnte England am Sonntag zum ersten Europameister-Titel überhaupt führen! Da liegen Tage, maximal Wochen zwischen! Was für ein Wahnsinn.
Und um Joachim Löw den Abschied zu gönnen, den er verdient hat: was ist mit PR-Manager Oliver Bierhoff, mit dem infrastrukturell völlig kaputten und korrupten DFB, der vernachlässigten und nicht mehr zeitgemäßen Arbeit in den Nachwuchsleistungszentren, mit Nationalspielern, die nach einer auf so viele Arten anstrengenden Saison müde sind? Nichts. Löw ist Schuld, mit seiner Taktik, mit seinen Entscheidungen. Der Mann ist Weltmeister geworden, hat die deutsche Nationalmannschaft umgekrempelt, für magische Momente gesorgt und sich 15 Jahre lang abgerackert. Was ist das heute noch wert?
Wir sind undankbar geworden, vielleicht aber auch einfach unaufmerksam. Ich sage: es ist eine Unart, wie die Fußball-Gemeinschaft mit Trainern umspringt. Und wenn wir nicht lernen, diesen Beruf endlich differenziert zu bewerten, brauchen wir uns nicht beschweren, wenn in zehn Jahren niemand mehr so blöd ist zu sagen: klar, ich werde Fußballtrainer.