Diskussionen um VAR reißen nicht ab: Bleibt einfach weg!

Hätte gestern in der 95. Minute gar keinen Hinweis aus Köln bekommen dürfen: Schiedsrichter Brych.
Hätte gestern in der 95. Minute gar keinen Hinweis aus Köln bekommen dürfen: Schiedsrichter Brych. / MB Media/Getty Images
facebooktwitterreddit

Seit dreieinhalb Jahren gibt es den VAR oder Videoschiedsrichter in Deutschland. Mit seiner Einführung erhoffte man sich das Ende klarer Fehlentscheidungen durch den Feldschiedsrichter. Doch die eigentlich gut gemeinte Idee wird in der Realität durch eine zu pedantische Auslegung dieses Klarheits-Kriteriums zerstört. Auch dreieinhalb Jahre danach.

Die Ursprünge

Eine Erinnerung: Achtelfinale der WM 2010 in Südafrika. In Bloomfontain treffen im Klassiker England und Deutschland aufeinander. Beim Stande von 2:1 für die DFB-Elf gelingt England ein Treffer (durch Lampard), dem die Anerkennung durch das uruguayische Schiedsrichtergespann verweigert wird.

Dabei haben wohl schon die meisten Zuschauer im Stadion gesehen, dass der von der Unterkante der Latte abprallende Schuss Lampards die deutsche Torlinie mehr als um einen Ballumfang überschritten hatte.

Für die Fernsehzuschauer rund um den Globus ist die Sache spätestens nach der Einblendung der ersten Zeitlupe klar. Eine krasse - ja geradezu abstruse - Fehleinschätzung des südamerikanischen Gespanns.

In den darauf folgenden Tagen entzündet sich fast zwangsläufig eine erregte Debatte darüber, wie man derartige Fehlentscheidungen künftig vermeiden kann. Die Torlinien-Technik rückt auf die Agenda des Fußballsports.

Und in seinem Zuge auch die Erweiterung auf einen sogenannten Video-Schiedsrichter. Denn natürlich kann auch eine vorher nicht geahndete Abseitsposition oder ein übersehenes klares Foulspiel, womöglich irgendwo im Mittelfeld des Platzes, in der Konsequenz ähnlich ungerechte Folgen zeitigen, wie die irrtümliche Annullierung eines gültigen Treffers.

Nach jahrelangen Debatten (immerhin mussten die Stadien landesweit und bis in die Zweite Liga hinab entsprechend technisch ausgerüstet werden) wird der VAR schließlich hierzulande in der Saison 2017/18 eingeführt.

Das Kriterium der "eindeutigen und klaren Fehlentscheidung"

Im Nachhinein kann man vielleicht bemängeln, dass damals nicht nachdrücklich genug darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es um Korrekturen krasser, offensichtlicher Fehlentscheidungen ("für jedermann erkennbar") des Hauptschiedsrichters (bzw seiner Assistenten an der Linie) gehen soll.

Doch genau dieses Kriterium scheint in den Hintergrund zu treten, wenn man sich nur die jüngsten Beispiele anschaut, bei denen dieser Grundgedanke nicht berücksichtigt wurde. Für das allerjüngste brauchen wir gar nicht weit in die Vergangenheit zu gehen.

Denn beim gestrigen Spiel zwischen dem VfB Stuttgart und Borussia Mönchengladbach kam es geradezu zu einem Paradebeispiel dafür, dass ein detektivischer Übereifer, den Gesamtkontext einer bestimmten Spielsituation außer Acht lassend, genau das Gegenteil von Gerechtigkeit zu Tage fördert.

Es ging um eine Szene im Anschluss an einen hohen Flankenball der Schwaben. Im Gerangel um den herunterfallenden Ball von Sosa sieht man, wie Gladbachs Bensebaini den VfB-Stürmer Kalajdzic zwar gut im Griff hat (branchenüblich, könnte man sagen), der finale Fall des schlaksigen Angreifers aber nicht eindeutig auf das Handeln des Borussia-Verteidigers zurückzuführen ist.

Vielmehr erkennt man in einer weiteren Zeitlupe aus anderem Winkel, dass es wahrscheinlich Kalajdzic´Mitspieler Waldemar Anton war, der durch sein ungestümes Einschreiten in den Zweikampf seinen eigenen Kollegen zu Fall bringt.

In der Realgeschwindigkeit sieht (und hört) man dann auch, wie nach dem Fall zwar kurz (sprich: reflexartig) vonseiten der Schwaben protestiert wird, Schiri Felix Brych aber instinktiv die ganze Sache als nicht strafwürdig interpretiert und "Weiterspielen" anzeigt. Weitere Proteste bleiben dann auch aus. Erst kurz darauf bekommt Brych das ominöse Signal auf seine Kopfhörer.

Man darf davon ausgehen, dass auch der an diesem Abend von Bibiana Steinhaus besetzte Kölner Keller sich die jeweilige Situation in voller Länge (mit dem Vorlauf vom Moment der Flanke Sosas an) und aus mehreren Perspektiven angeschaut hat.

Warum dann allerdings Steinhaus zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um eine eindeutige, klare und unzweifelhafte Fehlentscheidung des Schiedsrichters handelt, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben.

VAR-Schiris noch immer mit zu viel Eifer, auch kleinste, kaum ahndungswürdige Vergehen zu bestrafen

Doch man kann den Namen Steinhaus gegen eine Vielzahl anderer austauschen. Das Grundproblem bleibt dasselbe: ein Übereifer der Kölner Keller-Schiris, kleinste Abweichungen als grob zu interpretieren, gängige und von den meisten als akzeptabel hinzunehmende Fehleinschätzungen als klare Irrtümer zu interpretieren.

Doch so war das Ganze eigentlich nicht gedacht. Man kann sagen: je weniger der VAR einschreitet, um so besser macht er seinen Job. Natürlich müssen Abseitspositionen, so knapp sie auch sein mögen, Objekt einer jeglichen Revision sein.

In diesem Bereich geht es dann auch nicht um den tatsächlichen räumlichen Zusammenhang, denn es gilt: jede nicht erkannte Abseitsposition, selbst wenn es sich nur um Millimeter handelt, wird als klare Fehlentscheidung gewertet.

Doch bei allen anderen Situationen (Handspiele, Fouls) muss auch ein wenig mit "fussballerischer Intelligenz" ge- und bewertet werden.

Auf unser Beispiel von gestern zurückkommend: natürlich kann man den Klammergriff Bensebainis als Foul (Halten oder Klammern) gegen Kalajdzic bewerten - und auf den Punkt zeigen. Dann aber müsste man, wie Gladbachs Ginter gestern nach dem Spiel sagte, "50 solcher Fouls" pro Spiel (und pro Team) pfeifen.

Im fußballerischen Gewohnheitsrecht sprechen wir hier über "noch vertretbare Härte" - oder es fallen klassische Sätze wie "für einen Elfmeter zuwenig".

Wenn also das Klammern an sich nicht für einen Elfmeter reicht, und der Stürmer fällt, wäre ein genauer Blick auf die Ursache des Falles angeraten gewesen. Und nach Studium mehrerer Zeitlupen ist es um so unverständlicher, dass a) Steinhaus sich überhaupt einschaltete und b) Feldschiedsrichter Brych nicht all diese Zeitlupen vorgespielt bekam, sondern nur die, die die Anfangsentscheidung bestätigen. Geriert sich der Kölner Keller durch solch ein Vorgehen nicht zu Ankläger und Richter in einer Person?

Brych blieb angesichts des ihm zur Verfügung gestellten Bildmaterials fast nichts anderes übrig - und "korrigierte" seine ursprünglich richtige Entscheidung. Doch das ist nicht im Sinne des Erfinders. Die (mühevoll kontrollierte) Wut eines Marco Rose nach dem Spiel oder die noch auf dem Spielfeld sich Bahn brechende eines Jonas Hoffmann sind deshalb nur all zu verständlich.

Nochmal: der VAR ist eine gute Sache. Aber er darf nicht als Instrument dafür benutzt werden, vermeintliche Ungerechtigkeiten, die nicht mal von den betroffenen Personen als solche empfunden werden, als klar und absolut ahndungswürdig zu bewerten.

Ein Blick auf die Spieler hilft manchmal auch bei der Einordnung

Ein wenig mehr Vertrauen in das instinktive Gerechtigkeitsempfinden der Kicker auf dem Platz sollte schon herrschen. Und wenn auf eine bestimmte Aktion nur ein kurzer, zögerlicher Protest folgt - ja, dann war das Ganze wohl auch nicht so klar und sanktionswürdig, als dass der VAR unbedingt einschreiten müsste.

Und selbst wenn er einschreitet und sich eine Szene noch ein paar Mal anguckt - muss das nicht immer gleichbedeutend mit einem Signal an den Feldschiedsrichter sein. Und wenn es am Ende doch dazu kommt (wie gestern), sollte dem Referee zumindest das vollumfängliche Beweismaterial vorgelegt werden.

Denn ansonsten leidet zunehmend auch die Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen. Und die wollte man mit der Einführung des VAR ja eigentlich erreichen.

Noch kürzer könnte man es in die Parole pressen, mit der Gladbachs Trainer Rose gestern scheinbar einen verzweifelten Hilferuf an den DFB (oder Kölner Keller) richtete: Bleibt weg! Zumindest so oft es geht, könnte man noch hinzufügen.