Dieser HSV ist reif für die Couch!
Von Guido Müller
Jürgen Klopp hat mal in einem Werbespot gesagt, dass er davon überzeugt sei, dass die Lust am Gewinnen der eigenen Leistung förderlicher ist als die Angst vorm Verlieren. Der Hamburger SV wiederum scheint dieses Bonmot variieren zu wollen und tritt mittlerweile fast wöchentlich den Beweis an, dass auch die Angst zu gewinnen offenbar lähmen kann.
Denn anders ist es nicht zu erklären, dass er in unschöner Regelmäßigkeit Spiele aus der Hand gibt, die man eigentlich fest im Griff hat. Auch gestern, gegen den Angstgegner Holstein Kiel.
Ich hatte mich etwas verspätet in die Live-Übertragung auf Sky eingeklinkt. Oben rechts prangte schon (nach neun Minuten) ein fettes 0:1. Doch was ich dann im Anschluss und über weite Strecken der ersten Halbzeit sah, war eine HSV-Mannschaft, die zielstrebig den Rückstand wettmachen wollte. Schon von der ganzen Körpersprache gefiel mir dieser Auftritt weitaus besser als das Zitterspiel gegen Wehen Wiesbaden. Selbst ein - in meinen Augen ungerechtfertigterweise - annullierter Treffer von Rick van Drongelen (Mensch, das hätte dem Jungen richtig Auftrieb geben können für die letzten Spiele!) konnte das Team, angeführt von einem laufbereiten und kampflustigen Aaron Hunt, wie man ihn schon seit längerem nicht mehr gesehen hat, nicht von seinem Weg abbringen. Unbeirrt lief Angriff auf Angriff, wenn auch ohne die ganz großen Torchancen, auf das Gehäuse der Störche. Und ich sagte mir: Wenn sie so weitermachen, drehen sie das Spiel noch vor der Pause.
Gedacht - geschehen. Kaum vier Minuten nach dem Schock des nicht gegebenen Treffers erzielte Hunt per Elfmeter den Ausgleich. Keine zwei Minuten später legte der Finne Pohjanpalo (sechstes Tor im zehnten Spiel!) zur erstmaligen Führung nach. Erstmalige Führung auch was Spiele zwischen diesen beiden Mannschaften in der Zweiten Liga betrifft.
Eine Führung gegen den Angstgegner, dabei einen Rückstand gedreht, gut im Spiel befindlich und den Gegner absolut im Griff - was eigentlich braucht diese Mannschaft noch, um ein Spiel dann auch mal nach Hause zu bringen?
Kocht die Mannschaft ihr eigenes Süppchen?
Wie schon gegen Wiesbaden wollte ich mir die zweite Halbzeit zuerst gar nicht angucken. Sie wissen schon: dieses dumme Bauchgefühl... Aber die Neugier trieb mich dann doch, Sky wieder einzuschalten. Und - déjà vu, déjà vu - schon nach wenigen Minuten war klar, wohin die Reise gehen würde. Ich fragte mich vorm Bildschirm: Steckt da die Anweisung des Trainers hinter? Hat Hecking den Jungs gesagt: 'So, jetzt nehmt mal ein bisschen den Fuß vom Gaspedal und lasst den Gegner vor unser Tor kommen. Hört mal auf, nach vorne zu spielen und daddelt euch hinten den Ball zu.'
Ehrlich gesagt, kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn dem aber tatsächlich nicht so ist, muss man zur Schlussfolgerung kommen, dass die Mannschaft sich einfach nicht an die Marschroute des Trainers hält. Oder anders formuliert: Nach gut neun Monaten Tätigkeit als Cheftrainer scheint Hecking die Truppe nicht hinter sich zu haben. Anders sind die regelmäßigen Brüche im Spiel des HSV, vor allem nach eigener Führung, nicht zu erklären.
Das Fass Trainerwechsel will ich hier an dieser Stelle damit gar nicht aufmachen. Denn ich halte Hecking weiterhin für den richtigen Mann. Aber der HSV ist vielleicht der falsche Ort. Und zwar nicht nur für Hecking. Ist ja nicht so, dass es in den letzten Jahrzehnten keiner versucht hätte. Die Angst vor der eigenen Courage - ist es das, was die Mannschaft regelmäßig um die Früchte ihrer Arbeit bringt? Oder einfach nur bodenlose Arroganz? Oder keines von beiden, und wir stochern weiterhin im Dunkel beim Versuch einer rationalen Erklärung für die immer wiederkehrenden und immer gleichen Fehler?
Vor ein paar Tagen schrieb ich an dieser Stelle von einer möglichen Wiederholung des letztjährigen Saisonfinales in Liga 2. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten mittlerweile frappierend. Genau wie im Frühjahr 2019 findet gerade ein Schneckenrennen um den Aufstieg statt. Getreu dem berühmten Aforismus von Karl Valentin: "Können hätten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut." Damals wie heute lieferte die Konkurrenz des HSV Steilvorlagen in Reihe - allein: der Dino wollte oder konnte sie allesamt nicht nutzen. Auch dieses Jahr läuft alles auf einen Showdown am vorletzten Spieltag hin. Vor einem Jahr war es Paderborn, dieses Jahr könnte es Heidenheim werden, wo die Aufstiegsambitionen der Hamburger endgültig begraben werden.
Schneckenrennen bis zum 34. Spieltag - einschließlich!
Noch sind es vier ganze Spiele, somit zwölf Punkte zu gewinnen. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, dass wohl keines der Teams zwischen dem 2. und dem 4. Platz (also VfB, HSV und Heidenheim) alle vier Partien gewinnen wird. Die annähernde Pattsituation zwischen den drei Mannschaften dürfte sich bis zum 34. Spieltag - einschließlich - fortsetzen. Wie aber eine Mannschaft binnen vier Spielen eine offenbar systemisch verankerte Angst loswerden will, ist mir schleierhaft. Und so basiere ich mein Fünkchen Resthoffnung vor allem auf so wenig greifbare Dinge wie den Fußballgott oder die viel beschriene Fußballgerechtigkeit. Und finde mich insgeheim mit der bitteren Tatsache ab, ab dem Spätsommer halt in ein drittes Jahr Zweitklassigkeit zu gehen.