Das Modell Real Madrid: Wenn Nachwuchsarbeit zum reinen Geschäft verkommt!
Von Guido Müller

Rund um das Bernabéu-Stadion im Herzen des modernen Madrids schwärmen die älteren unter den aficionados noch heute von der sportlich gar nicht mal so erfolgreichen Dekade der Achtziger. Zwar gewann Real Madrid in jener Zeit zweimal den UEFA-Pokal, lief aber auf der ganz großen Bühne des Europapokals der Landesmeister (der heutigen Champions League) oft genug seinen eigenen Ansprüchen hinterher.
Und dennoch schwelgen die Alten noch heute gerne in den Erinnerungen an jene Zeit.
Wehmütige Erinnerungen an die Quinta del Buitre
Und das hat einen konkreten Grund: die Quinta del Buitre. Also die "Klasse des Geiers". Mit Geier ist natürlich Emilio Butragueño gemeint. Der trickreiche, feingliedrige Torjäger galt bis zum Erscheinen eines gewissen Raúl González Blanco (Mitte der Neunzigerjahre) als eines der glanzvollsten Aushängeschilder der Nachwuchsarbeit des Klubs in dessen gesamter Historie.
Doch zu einer Klasse gehören natürlich mehr als einer. Gleich fünf Spieler aus dem eigenen Nachwuchs schickten sich ab dem Jahr 1983 an, für Furore bei den Profis zu sorgen: Manuel Sanchís, Rafael Martín Vázquez, Michel, Emilio Butragueño und Miguel Pardeza. Letztgenannter sollte jedoch schon 1987 der spanischen Hauptstadt für immer den Rücken kehren und erlebte bei Real Saragossa seine erfolgreichste Zeit als Profi, gekrönt 1995 mit dem Sieg im Europapokal der Pokalsieger.
Pardezas ehemalige "Klassenkameraden" jedoch prägten ab Mitte der Achtzigerjahre nicht nur maßgeblich die Geschicke ihres Klubs, sondern bildeten darüber hinaus auch das Gerüst der spanischen Nationalmannschaft. Die Achse vom beinharten Innenverteidiger Sanchís über die eleganten Mittelfeldspieler Vázquez und Michel bis zum stets torgefährlichen "Buitre" verzückte mit ihrem Spiel gegen Ende der Achtziger nicht nur die Fans in Madrid.
Das muss man im Hinterkopf haben, wenn man anno 2020 über den Nachwuchs von Real Madrid spricht. Zwar produziert die cantera der Königlichen weiterhin Talente wie am Fließband - allein: den Weg bis zur Ersten Mannschaft schaffen am Ende nur die wenigsten. Und der dann folgende Schritt, sich dort womöglich dauerhaft zu etablieren, ist noch weniger Akteuren vergönnt gewesen.
Ein Dani Carvajal muss in diesem Zusammenhang natürlich genannt werden. Mit Abstrichen noch ein Álvaro Morata, der 2016 von der Alten Dame Juventus für 30 Millionen Euro zurückgekauft wurde (nachdem er das Bernabéu zwei Jahre zuvor gegen 20 Millionen Richtung Piemont verlassen hatte), nur um ein weiteres Jahr später endgültig an den FC Chelsea abgegeben zu werden.
56 Millionen Euro in klingender Münze waren den Verantwortlichen dann doch lieber, als darauf zu hoffen, dass in dem wuchtigen Stürmer ein neuer Local Hero a la Butragueño oder Rául heranwächst. Doch nur zwei Namen aus einem Pool von Dutzenden sind beileibe keine umwerfende Bilanz. Und eine königliche schon mal gar nicht.
Nachwuchsarbeit ist unter Florentino Pérez zu einer Einnahmequelle geworden
Und doch kann die Arbeit mit dem eigenen Nachwuchs bei Real Madrid als Erfolgsstory verbucht werden. Zumindest auf ökonomischer Ebene. Das illustrieren folgende Daten: seit 2009 hat der Klub über Verkäufe seiner Eigengewächse mehr als 280 Millionen Euro eingenommen. Die letzten für Achraf Hakimi, der vor einigen Wochen für 43 Millionen Euro an Inter Mailand verkauft wurde.
Im selben Zeitraum gaben die Königlichen etwa 30 Millionen Euro für den Nachwuchs aus. Macht unter dem Strich ein Plus von 250 Millionen Euro. Zum Vergleich: im selben Zeitraum kam der Erzrivale aus Barcelona auf "nur" gut 130 Millionen Euro an Transfererlösen für selbst ausgebildete Spieler, bei annähernd gleichen Kosten.
Doch den gemeinen Fan, der vor dem Spiel noch in einer der vielen Bars rund um die Plaza de los Sagrados Corazones seinen letzten botellín trinkt, sich vielleicht noch eine Tüte pipas als Nervennahrung kauft, um sich dann auf den Weg ins weite Runde zu machen, kann man mit kaufmännischen Erfolgen nur bedingt erfreuen. Fußball ist und bleibt auch eine Projektionsfläche unserer Träume und Sehnsüchte.
Und natürlich wird ein jeder Anhänger, ganz gleich welchen Klubs, es vorziehen, wenn zumindest ein Teil des Kaders mit eigenen, womöglich in der Stadt selbst aufgewachsenen Talenten bestückt ist, als mit externen (und meist sehr kostspieligen) Zugängen aus dem Ausland. Aber auch in Madrid scheint der Prophet im eigenen Land nicht mehr viel zu gelten. Jedenfalls nicht mehr so viel wie damals. In den achtziger Jahren. In der Zeit der Klasse des Geiers.