Atlético verliert ohne eigenen Torschuss bei Man City: Ist "Simeone-Ball" noch tragbar?
Von Dominik Hager
Atlético Madrid oder wie Thomas Müller es pflegt zu sagen, "die größten Rabauken im europäischen Fußball", haben sich in Europa Respekt verdient, aber auch einen zweifelhaften Ruf angeeignet. Kopf der Truppe ist seit mehr als zehn Jahren Diego Simeone, der mit dem spanischen Team einen ganz eigenen Stil prägt. "Nicht schön, aber erfolgreich", würden die meisten Experten sagen. Aber stimmt diese These so überhaupt oder ist der Coach inzwischen mehr ein Bremsblock als ein Magier?
Atlético Madrid - so sagt man - ist in Champions-League-K.o.-Spielen kaum zu bezwingen und jeder Zeit in der Lage, aus der kleinsten Chance, ein Tor zu erzielen. Wenn das Team dann aber in einem Match weiter von einem Treffer entfernt ist als Lothar Matthäus von einem Sprachdiplom in Englisch, wird es trotzdem irgendwann bedenklich.
In Bezug auf das CL-Viertelfinal-Hinspiel gegen Manchester City ist das sogar noch ein freundlicher Vergleich. Null Chancen, null Schüsse, null Ecken, 29 Prozent Ballbesitz, aber dafür immerhin 13 Fouls - lautete der erschreckende Arbeitsnachweis der Madrilenen.
Mit dem 0:1 war die Simeone-Elf letztlich noch mehr als gut bedient. Jetzt ist man selbstredend wieder geneigt zu argumentieren, dass eine knappe Auswärtsniederlage beim vielleicht besten Team der Welt gar nicht so schlecht ist. Klar, wir sprechen hier auch keineswegs von einem desaströsen Resultat und trotzdem greift die Floskel: "Wer nicht aufs Tor schießt, der kann auch nicht gewinnen".
Atlético Madrid: Spielstarke Truppe, die sich nicht entfalten kann
Mit dem Blick auf den namenhaften Atlético-Kader muss schon die Frage erlaubt sein, ob das Aufgebot nicht mehr zu bieten hat, als elf Busfahrer, die ihren 15-Tonner in höchster Präzision vor den eigenen Kasten parken und dann und wann auch mal jemanden rüde umfahren können. Tatsache ist jedenfalls, dass hinter der Fassade eigentlich hochveranlagte Fußballer stecken. Man bekommt aber häufig das Gefühl, dass Simeone den Spielern magnetische Bleiwesten angezogen hat, die sie in der eigenen Hälfte fesseln.
João Félix, Antoine Griezmann, Luis Suarez, Ángel Correa, Thomas Lemar, Koke, Llorente: All das sind Namen, die das Herz eines jeden Fußball-Fans eigentlich höher schlagen lassen, da sie allesamt grandiose Kicker sind, die am Ball unglaublich viel drauf haben sowie Chancen kreieren und Tore erzielen können.
Gegen unterklassige Teams bekommt man von den Akteuren auch durchaus spektakulären Fußball geboten, doch sobald ein Top-Team in der Champions League wartet, scheinen all die genannten Spieler nur noch mit Defensiv-Aufgaben überschüttet zu werden. Gegen Manchester City hätte Simeone eigentlich gut und gerne ausschließlich Verteidiger aufstellen können.
Atlético stößt mit Simeone-Ball an seine Grenzen: Ist der Anspruch ein anderer?
Kann das aber der Anspruch von Atlético Madrid sein? Dabei steht überhaupt nicht zur Debatte, dass Simeone unglaubliches geleistet hat und seinen Klub praktisch aus den Nichts zweimal ins Finale der Champions League geführt hat. Seine taktischen Kniffe waren damals überragend und definitiv verantwortlich dafür, dass der Klub trotz unterlegenem Personal nahezu unschlagbar war.
Das Atlético Mitte der 2010er-Jahre ist aber eben auch nicht mehr das von heute. Trotz des klar verbesserten Standing im Weltfußball konnte der Klub seit 2016 kein CL-Halbfinale mehr erreichen. Zwar gilt es den Meistertitel in La Liga 2020/21 zu würdigen, jedoch zeigt dieser Fakt ganz klar, dass der Simeone-Fußball auch an seine Grenzen stößt. Es ist ja auch keine Seltenheit, dass eine gewisse Taktik eine Zeit lang funktioniert, irgendwann aber veraltet ist. Das wäre dann aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit des Tiki-Taka und des Simeone-Fußballs.
Atlético braucht eine neue Identität: Ist Simeone noch der Richtige?
Dabei wäre die Möglichkeit ja gegeben, etwas an der Spielanlage zu verändern. Wofür hat der Verein unglaubliche 127 Millionen Euro in einen Super-Techniker wie João Félix investiert, wenn dieser in taktische Fesseln gepackt wird und zum Verteidiger werden muss? Atlético ist kein kleiner Underdog-Klub mehr, der durch beißen, kratzen und kämpfen die großen Klubs ärgern kann. Personell ist der Verein längst so gut aufgestellt, dass man sich eine neue Identität aneignen kann.
Man muss ja nicht gleich alle Hebel umbiegen und einen offensiven Power-Fußball wie Bayern München oder Liverpool spielen, aber zumindest eine gute Kombination aus einer kompakten Defensive und ein wenig Spielkunst auf den Weg nach vorne wäre doch sicher erfolgsversprechend.
Jetzt muss Simeone zeigen, dass er eben auch anderes kann und die Variabilität, den Mut und den Ideenreichtum hat, Atlético gewinnbringend zu verändern. Es wäre auf jeden Fall für alle Fußball-Fans - die eigenen Fans eingeschlossen - eine große Erleichterung. Kann er dies nicht, müssen die Rojiblancos vielleicht doch mal die Option prüfen, mit einem neuen Coach in ein neues Zeitalter aufzubrechen.