"10 Tage EURO 22: Zeit für ein erstes Zwischenfazit" - Die EM-Kolumne von Julia Simic

Julia Simic analysiert für 90min die EM 2022 in England
Julia Simic analysiert für 90min die EM 2022 in England /
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Julia Simic hat für den FC Bayern, Turbine Potsdam, den VfL Wolfsburg und den SC Freiburg insgesamt 186 Bundesligaspiele bestritten. Die ehemalige deutsche Nationalspielerin war zwei Jahre lang für West Ham United in der FA Women's Soccer League sowie ein Jahr für den AC Mailand in der Serie A aktiv. Gegenwärtig ist die 33-Jährige für den DFB als Co-Trainerin der U17-Juniorinnen tätig und arbeitet als TV-Expertin für DAZN, Sky und Magenta Sport.


1.Spieltag

Gruppe A

Beth Mead
Beth Mead (hinten) erzielte im Eröffnungsspiel den goldenen Treffer zum 1:0-Erfolg des Gastgebers / James Gill - Danehouse/GettyImages

Top-Favorit England wusste im Auftaktmatch gegen Österreich noch nicht vollends zu überzeugen, auch wenn die enorme Qualität der Lionesses in Ansätzen bereits zu erkennen war. Insbesondere der breite Kader könnte für das Team von Sarina Wiegman im Laufe des Turniers noch Gold wert sein.

Österreich hielt trotz der 0:1-Pleite gut dagegen und gefiel vor allem durch ihr geschlossenes mannschaftliches Auftreten. Mit ihrer kampfbetonten Spielweise und ihrem aggressiven, hohen Pressing wäre es Nicole Billa und Co. beinahe gelungen, dem Gastgeber einen Punkt abzutrotzen.

Nordirland muss man nach dem ersten Spieltag leider als das bisher schwächste Team bei der Euro bezeichnen. Die Nordirinnen waren beim 1:4 gegen Norwegen deutlich unterlegen und lagen zurecht früh mit 0:3 hinten.

Man darf allerdings nicht vergessen, dass Nordirland zum ersten Mal überhaupt an einer Europameisterschaft teilnimmt. Der Treffer von Rekordspielerin Julie Nelson hat eindrucksvoll aufgezeigt, was diese erste Turnierteilnahme für eine ganze Generation junger Fußballerinnen in Nordirland bedeutet. Die Nordirinnen mögen zwar ihr erstes Spiel verloren haben, mit etwas Abstand betrachtet war die Partie gegen Norwegen aber ein historischer Erfolg.

Gruppe B

Lina Magull
Die deutsche Mannschaft startete mit einem furiosen 4:0 in die EM / Maja Hitij/GettyImages

Plötzlich zählt Deutschland zu den Turnierfavoriten - zumindest, wenn man der internationalen Presse glauben darf! Die deutsche Elf hat tatsächlich einen vielversprechenden und erfrischenden Auftakt hingelegt. Mit der beeindruckenden Leistung gegen Dänemark hat das DFB-Team gezeigt, welch hohe Qualität in ihm steckt. Insbesondere die oftmals diskutierte Defensive stand gegen Pernille Harder und Co. bombensicher.

Die Däninnen kamen mit dem aggressiven und hohen Anlaufen der Deutschen nie zurecht und wurden teilweise förmlich überrannt. Die Mannschaft von Lars Sondergaard fand kaum ins Spiel und muss sich in den verbleibenden beiden Vorrundenpartien dringend steigern.

Im zweiten Gruppenspiel offenbarte Außenseiter Finnland trotz der 1:4-Niederlage, wie man dem Turnierfavoriten Spanien weh tun kann. Mit tiefen Ballgewinnen und schnellen Kontern brachten die Finninnen die hochstehende spanische Abwehrreihe ein ums andere Mal ins Schwitzen.

Der Ausfall Alexia Putellas hat in Spanien einige Diskussionen darüber ausgelöst, ob die Weltfußballerin in den letzten Monaten zu wenige Pausen bekommen hat. Alexia hat die meisten Minuten aller spanischen Feldspielerinnen auf dem Buckel und wurde von Trainer Jorge Vilda kaum geschont. Ihr Fehlen stellt zweifelsohne einen herben Rückschlag für die spanischen Titelambitionen dar.

Gruppe C

Netherlands v Sweden: Group C - UEFA Women's EURO 2022
Schweden und die Niederlande trennten sich 1:1 / Anadolu Agency/GettyImages

Portugal und die Schweiz galten vor dem Turnier ein wenig als Wundertüten. Insbesondere die Schweiz konnte man nach den holprigen Testspielen in der EM-Vorbereitung nur schwer einschätzen.

Mit dem 2:2-Unentschieden können angesichts des frühen 0:2-Rückstands vor allem die Portugiesinnen gut leben. Die Eidgenössinnen zogen sich nach dem Doppelschlag zu Beginn zu weit zurück, was angesichts ihrer Spielphilosophie reichlich ungewöhnlich war. Zudem fehlte der Schweiz die Möglichkeit, von der Bank noch einmal für frischen Wind zu sorgen.

Eine schnelle Spielerin wie Alisha Lehmann hätte der Mannschaft in dieser Situation sicher gut getan. Die Akteurin von Aston Villa hat ihre Teilnahme an der EM jedoch aus privaten Gründen abgesagt.

Im zweiten Gruppenspiel waren sowohl Schweden als auch die Niederlande noch mit angezogener Handbremse unterwegs. Beiden Nationen fehlte im Offensivspiel die Risikobereitschaft. Die Niederländerinnen fanden in einer kampfbetonten Begegnung gegen ein gerade im zentralen Mittelfeld sehr erfahrenes Schweden nie wirklich zu ihrem gewohnten Kombinationsspiel. Das dürfte auch Louis van Gaal so gesehen haben, der das Duell live im Stadion auf der Tribüne verfolgte.

Gruppe D

Grace Geyoro
Mit drei Treffern war Grace Geyoro die Spielerin des ersten Spieltags / Jonathan Moscrop/GettyImages

Frankreich ist mit dem beeindruckenden ersten Gruppenspiel, das 5:1 gegen Italien gewonnen wurde, in meinen Kreis der drei Top-Favoritinnen aufgestiegen. Wer die Französinnen bislang noch nicht auf dem Schirm hatte, sollte spätestens nach dem Feuerwerk mit weiteren starken Auftritten der Equipe Tricolore rechnen.

Im Vorfeld gab es Kritik, weil ehemalige Top-Spielerinnen wie Henry und LeSommer zu hause gelassen wurden und man so unnötigerweise auf Qualität verzichtet habe. In diesem Zuge wurde die fehlende Erfahrung des Teams bemängelt - doch diese Vorwürfe wurden Lügen gestraft. Das französische Team lebt von seiner Explosivität und Dynamik und besitzt unheimliche Qualität in der Offensive: Über die Flügel sind Diani und Cascarino extrem schnell und ballsicher, im Zentrum ist Katoto immer brandgefährlich.

Dann gab es noch das Elfmeter-Spiel zwischen Island und Belgien. Die Skandinavierinnen galten vor Anpfiff natürlich als Favorit und haben mit ihren Top-Stars Sara Björk Gunnarsdottir und Dagny Brynjarsdottir auch Spielerinnen in ihrem Team, die durch ihre Doppelrollen als Profi-Fußballerinnen und Mütter absolute Vorbilder sind.

Vor dem Turnier hatten die Isländerinnen noch den Austragungsort kritisiert, da sie nur im Academy Stadion von Manchester City spielen durften. Trotz des 1:1-Unentschiedens zeigten sie, was für tolle Spielerinnen sie in den Reihen haben. Herauszuheben ist dabei natürlich Sveindis Jane Jonsdottir vom VfL Wolfsburg, die immer wieder die Zielspielerin langer Bälle im isländischen Spiel ist und mit ihrer Geschwindigkeit kaum zu halten ist.

2.Spieltag

Gruppe A

Ellen white
England gehört spätestens nach dem 8:0 gegen Norwegen zu den Top-Favoriten / Naomi Baker/GettyImages

Die Österreicherinnen haben gegen Nordirland erwartungsgemäß ihren ersten Sieg eingefahren. Die Mannschaft von Irene Fuhrmann zeichnet sich durch eine ungeheure Mentalität und einen tollen Teamgeist aus. Mich würde es nicht überraschen, wenn unserem Nachbarland gegen die favorisierten Norwegerinnen der Einzug in die Runde der letzten Acht gelingt.

Von Ada Hegerberg und Co. war ich hingegen wirklich enttäuscht. Natürlich kann man gegen England verlieren. Natürlich gibt es Tage, an denen rein gar nichts gelingen mag. Aber 0:8?! Die Skandinavierinnen haben sich kampflos ihrem Schicksal ergeben und keinerlei Gegenwehr gezeigt. Das darf einer Mannschaft mit so vielen erfahrenen und charakterstarken Spielerinnen einfach nicht passieren.

Der Gastgeber wurde von seinen Fans für den phänomenalen Auftritt gegen Norwegen gebührend gefeiert. Ich war im Community Stadium live vor Ort und durfte die Stimmung auf den Rängen hautnah miterleben. Die englischen Anhänger haben jeden einzelnen Treffer frenetisch bejubelt und ihre Lionesses unaufhörlich nach vorne gepeitscht.

Aber nicht nur, was die Euphorie im Land angeht, waren die Engländerinnen im zweiten Vorrundenspiel titelreif. Auf dem Platz bestach das Team gegen Norwegen durch sein Pressing und kam nach Ballgewinn unfassbar schnell zum Abschluss. Mit der Physis, die die englischen Spielerinnen auf den Platz bringen, werden nur wenige Gegner mithalten können. Für mich gehört England ganz klar zu den Top-Favoriten auf den EM-Titel.

Gruppe B

Lucia Garcia, Merle Frohms
Merle Frohms behielt gegen Spanien zum zweiten Mal eine weiße Weste / Alex Pantling/GettyImages

Dasselbe gilt nach dem 2:0 gegen Spanien auch für Deutschland. Gegen die Ibererinnen hat insbesondere die deutsche Defensive, hinter der vor dem Turnier ein großes Fragezeichen stand, imponiert. Das gilt sowohl für die individuelle als auch für die mannschaftstaktische Leistung.

Mit Giulia Gwinn auf rechts, Feli Rauch auf der linken Seite und dem Innenverteidigerinnen-Duo aus Kathy Hendrich und Marina Hegering hat Martina Voss-Tecklenburg eine funktionierende Abwehrkette gefunden. Hinzu kommt Torhüterin Merle Frohms, die bei ihrem ersten großen Turnier bisher eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat, dass sie auch unter Druck ihre Top-Leistung abrufen kann.

Aber auch in den anderen Mannschaftsteilen haben die Mechanismen gegriffen. Anders als gegen Dänemark war die DFB-Elf gegen technisch versierte Spanierinnen nur wenig am Ball, hat sich davon aber nicht unterkriegen lassen und diszipliniert die oftmals mühselige und laufintensive Defensivarbeit durchgezogen. Diese Anpassungsfähigkeit an den Gegner und die jeweilige Spielsituation halte ich für die große Stärke der DFB-Elf.

Darüber hinaus beeindruckt mich der Teamgeist im deutschen Kader. Beispielhaft kann man hier die Geste von Alexandra Popp nennen, die nach der Partie das Trikot der an Corona erkrankten Lea Schüller überstreifte – obwohl die beiden als Konkurrentinnen um den Platz in der Sturmspitze kämpfen.

Gerade weil diese Entwicklung vor dem Turnier so nicht abzusehen war, freue ich mich besonders über die deutschen Leistungen. Nun geht es darum, weiter hart zu arbeiten und den Fokus nicht zu verlieren – für den EM-Titel reichen zwei Siege leider noch nicht.

Neben England und Deutschland zähle ich weiterhin auch die Spanierinnen zum Favoritenkreis. Die fußballerische Qualität, die Spanien gegen Deutschland in der ersten Hälfte auf den Platz gebracht hat, war das Beste, was ich seit langem im Frauenfußball gesehen habe. Nach den Ausfällen von Jenni Hermoso und Alexia Putellas hapert es allerdings in der Offensive, wie man auch gegen Deutschland gesehen hat. Trotzdem hat Spanien für mich die beste Spielanlage aller Mannschaften dieses Turniers, wahrscheinlich sogar weltweit. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Furia Roja das letzte Gruppenspiel gegen Dänemark gewinnt und ins Viertelfinale einzieht.

Gruppe C

Lynn Wilms, Victoria Pelova, Diana Silva
Portugal um Diana Silva zeigte gegen die Niederlande eine starke Leistung, musste sich aber dennoch mit 2:3 geschlagen geben / Harriet Lander/GettyImages

Schweden und die Niederlande zähle ich nach den bisher gezeigten Leistungen nicht zum Favoritenkreis. Beide Teams leben bislang vor allem von ihren herausragenden Einzelspielerinnen. In Sachen Spielstil ist noch viel Luft nach oben. Gerade den Niederländerinnen fehlt häufig das Tempo in ihren Aktionen.

"Comeback"-Mannschaft Portugal hat mich ziemlich positiv überrascht. Die Portugiesinnen haben nach zwei 0:2-Rückständen Mentalität bewiesen und machen vor allem aufgrund ihrer hervorragenden Technik richtig Spaß. Man sieht sofort, dass viele portugiesische Spielerinnen eine Ausbildung im Futsal genossen haben und einfach richtig gut kicken können. Ich würde mich freuen, wenn die Selecao ihre körperlichen Nachteile im letzten Gruppenspiel gegen Schweden wettmachen und für eine kleine Sensation sorgen könnte.

Gruppe D

Marie Antoinette Katoto
Der Ausfall von Torjägerin Marie-Antoinette Katoto wird für Frankreich nur schwer zu verkraften sein / BSR Agency/GettyImages

In der Gruppe D hätte ich von Italien mehr erwartet. Die Squadra Azzurra fiel gegen Island mit einer schwachen Chancenverwertung auf und hätte die Begegnung eigentlich für sich entscheiden müssen. Andererseits war die italienische Defensive wie schon gegen Frankreich alles andere als stabil. Grundsätzlich glaube ich, dass die Entwicklung des italienischen Frauenfußballs in die richtige Richtung geht. Für ganz oben reicht es zwar noch nicht, trotzdem hoffe ich und traue es den Italienerinnen auch zu, dass sie Belgien schlagen und die Runde der letzten Acht erreichen.

Neben England, Deutschland und Spanien halte ich Frankreich für eines der vier stärksten Teams bei der Euro. Die Französinnen sind in der Offensive unheimlich gut besetzt und bringen die besten athletischen Voraussetzungen aller Turnierteilnehmer mit. Allerdings ist die Equipe Tricolore defensiv oftmals zu sorglos und lässt ihren Gegnerinnen zu viele Räume. Außerdem wäre ein längerer Ausfall der am Knie verletzten Torjägerin Marie-Antoinette Katoto kaum zu kompensieren, auch wenn Backup Ouleymata Sarr ihre Sache gegen Belgien gut gemacht hat.

Erstes Zwischenfazit

FBL-EURO-2022-WOMEN-ENG-AUT
OLI SCARFF/GettyImages

Die EM macht Spaß! In den Stadien herrscht eine tolle Stimmung, egal, ob die Engländerinnen vor 70.000 Zuschauern im Old Trafford antreten oder sich andere Nationen in kleineren Stadien gegenüberstehen.

Das fußballerische Level in den Partien ist insgesamt sehr hoch - das höchste technische Niveau und die temporeichsten Spiele, die ich bisher bei einer EM gesehen habe. Das ist auch den vermeintlich kleineren Ländern zu verdanken, die sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt haben. In jeder Mannschaft finden sich top ausgebildete Spielerinnen, sodass das fußballerische Niveau fast zwangsläufig ansteigen muss.

Die DFB-Elf hat sich durch zwei beeindruckende Siege in den Favoritenkreis gespielt, zu dem ich außerdem die Engländerinnen, Spanien und die Französinnen zähle. Im Viertelfinale gegen Österreich ist das deutsche Team auf dem Papier zwar überlegen, man sollte die kampfstarken Österreicherinnen aber keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen.


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