Nuri Sahin ist überfordert mit der Größe der Aufgabe - Ein Kommentar
Von Hendrik Gag
Das Erschreckendste an der 1:2-Niederlage in Augsburg war aus BVB-Sicht nicht die Leistung - auch wenn den Dortmundern im Stadion und an den Fernsehbildschirmen durchaus schaurig zu Mute gewesen sein dürfte -, sondern die Vorhersehbarkeit des schwachen Auftritts.
Auswärtsspiele nach Champions-League-Spieltagen sind bei Borussia Dortmund seit Jahren ein Stolperstein - daran hat sich auch unter Nuri Sahin nichts geändert. Auf die drei Königsklassen-Partien dieser Saison folgten drei Pleiten: zuletzt das 1:2 in Augsburg, das 1:2 bei Union Berlin und das krachende 1:5 in Stuttgart.
Mit der Einstellung von Sahin sollte unter anderem diesem Muster entgegengewirkt werden. Mit einer kontrollierteren, mehr auf Ballbesitz ausgerichteten Spielweise sollten die berüchtigten Leistungsschwankungen der letzten Jahre ausgemerzt werden. Bislang geht der Plan nicht auf - und überhaupt fragt man sich, was sich beim BVB eigentlich zum Positiven gewandelt hat.
Sahins Außendarstellung wirkt unsouverän
Das Beste aus seinen - ohne Frage hochtalentierten - Spielern holt Sahin bislang noch nicht heraus. Im Gegenteil: Marcel Sabitzer, der beim fulminanten Lauf der Schwarz-Gelben in das Champions-League-Finale der beste Dortmunder neben dem Defensiv-Duo aus Nico Schlotterbeck und Mats Hummels war, steht in der Frühphase der Saison neben sich - vor allem, weil er lange nicht auf seiner bevorzugten Position im Zentrum ran durfte.
Stattdessen stellte Sahin Sabitzer zu Saisonbeginn auf den ungeliebten rechten Flügel. Seinen Frust über den Positionswechsel tat der Österreicher nach der Königsklassen-Partie gegen Brügge (3:0) kund. "Die Sechs ist besser. Es ist so ein anderes Spiel für mich als im Zentrum, nicht die Idealposition", so Sabitzer über seine neue Position.
Sahins Reaktion folgte noch auf der Pressekonferenz nach demselben Spiel: "Ich weiß, dass Sabi lieber auf der Sechs spielt. Das hat er mir schon zehntausendmal gesagt. Und ich weiß auch, dass Sabi auf der Sechs besser spielt."
Ein unbeholfener Versuch, die Kontroverse abzumoderieren. Sahin erklärte zwar, dass Sabitzer zum Wohle der Mannschaft auf einer fremden Position spielen würde, das Geschehen auf dem Platz rechtfertigte Sahins Entscheidung jedoch nicht, in den letzten beiden Partien stellte der 36-Jährige Sabitzer wieder ins Mittelfeldzentrum - seine Form aus der Vorsaison konnte der Österreicher nach dem Hin und Her jedoch nicht auf Knopfdruck abrufen.
Sahins Unerfahrenheit auch im Spiel spürbar
Die Debatte um Sabitzers Position ist nicht der einzige Moment, in dem Sahin seine Unerfahrenheit auf der Trainerbank anzumerken ist. Am Dienstag entschied er sich beim Champions-League-Spiel gegen Real Madrid, in der 55. Minute auf eine Fünferkette umzustellen, um den 2:0-Vorsprung, den seine Mannschaft nach einer starken ersten Halbzeit heraus gespielt hatte, über die Zeit zu bringen. Der Plan ging schief - sieben Minuten nach dem Wechsel stand es 2:2, am Ende ging der BVB mit 2:5 unter.
"Wir haben ein richtig gutes Spiel gemacht in der ersten Halbzeit und dann unter anderem auch mit meiner taktischen Umstellung ein wenig den Faden verloren“, gestand Sahin den Fehler nach der Partie ein. Doch wie viele Anfängerfehler von seinem Cheftrainer kann sich der BVB leisten?
Aktuell erinnert Sahin als BVB-Trainer an Andrea Pirlo als Juve-Coach. Beide waren ihrer aktiven Zeit hervorragende Mittelfeldspieler, die ohne Zweifel ein sehr gutes Spielverständnis mitbrachten und in ihrer Trainerkarriere früh zu einem Top-Klub gingen, bei dem sie selbst spielten. Sahin war vor seinem Wechsel zum BVB etwas mehr als zwei Jahre Trainer beim türkischen Erstligisten Antalyaspor, Pirlo war sogar nur Jugendtrainer in Turin, bevor er zur ersten Mannschaft befördert wurde. Der Italiener hielt schlussendlich gerade einmal eine Saison bei der alten Dame durch.
Geht Dortmund den Arsenal-Weg?
Es gibt aber auch Gegenbeispiele, etwa der FC Arsenal: Als Ex-Gunners-Profi Mikel Arteta die Londoner in seiner ersten vollen Saison als Cheftrainer nur auf den achten Platz führen konnte, forderten nicht wenige Fans sein Aus. Der Klub blieb geduldig und hielt an Arteta fest, inzwischen hat der Spanier Arsenal zum Meisterschaftsanwärter geformt.
Ein ähnlicher Weg deutet sich bei Eintracht Frankfurt an: Dino Toppmöller wurde in seiner ersten Saison bei der SGE häufig kritisiert. Ähnlich wie bei Sahin zeigten seine Ballbesitz-Ideen nicht die erhoffte Wirkung, und seine Auftritte vor den Medien wirkten oft unbeholfen. Fragen, ob der 43-Jährige, der zuvor nur in Belgien und Luxemburg Cheftrainer war, der Aufgabe Eintracht Frankfurt bereits gewachsen sei, kamen auf.
Vor seiner zweiten Saison in Frankfurt scheint Toppmöller jedoch die richtigen Schlüsse gezogen zu haben: Er stellte seine Taktik um, mit einem schnellen Umschaltspiel legte die Eintracht einen sehr guten Saisonstart hin - die Trainerdiskussion ist vom Tisch.
BVB in brenzliger Lage
Wird es Sahin eher wie Pirlo ergehen oder wie Arteta und Toppmöller? Für zweiteres spricht, dass Sahin in Dortmund durchaus bereits Positives zeigen konnte. Auch wenn er in der zweiten Halbzeit gegen Real Madrid mit der Umstellung einen großen Fehler machte, muss man dem Trainer auch Anerkennung für das gute Auftreten seiner Mannschaft in der ersten Hälfte zollen.
Die Dortmunder zeigten sich sehr sicher im Spielaufbau, wussten sich meist flach und präzise aus dem Druck der Madrilenen zu befreien und sorgten so immer wieder für Entlastungen und schlussendlich für die Halbzeitführung - ein Merkmal, das die Handschrift von Nuri Sahin trug.
Jedoch unterscheidet sich Borussia Dortmunds Situation in einem Punkt fundamental von der des FC Arsenals und Eintracht Frankfurts: Der BVB droht, seine Saisonziele zu verpassen und so seine Zukunft zu gefährden.
Eintracht Frankfurt konnte in Toppmöllers uninspirierender ersten Saison dennoch souverän Sechster werden und so den Einzug in das internationale Geschäft klarmachen. Arteta wurde zwar nur Achter in seiner ersten Saison und verpasste somit die europäischen Plätze. Die Gunners waren jedoch durch die hohen TV-Geld-Einnahmen in England ohnehin finanziell unabhängiger von den UEFA-Wettbewerben, als Borussia Dortmund es ist.
Der BVB kann es sich nicht leisten, die Champions League zu verpassen. Falls die Dortmunder die Königsklasse verpassen und sich nur für die Europa League qualifizieren würden, käme das mit massiven finanizellen Einbußen daher. Zum Vergleich: Das Startgeld für die Champions League beträgt dem Kicker zufolge 18,62 Millionen Euro, in der Europa League sind es gerade einmal 4,31 Millionen Euro. Für einen Sieg in der Königsklasse gibt es 2,1 Millionen Euro, in der Europa League 0,45 Millionen Euro.
Champions-League-Teilnahme mit Sahin in Gefahr
Diese Verluste drohen aktuell. Bereits in der letzten Saison wurde der BVB nur Fünfter und kam nur durch den zusätzlichen Startplatz für die Bundesliga in die Champions League. Bislang machen die Top-Vier der letzten Spielzeit (Leverkusen, Stuttgart, Bayern und Leipzig) erneut einen besseren Eindruck, auch wenn der VfB derzeit noch hinter dem BVB steht. Hinzukommen die Frankfurter Eintracht und das wiedererstarkte Union Berlin.
Dortmund braucht also eine zeitnahe Leistungssteigerung - die ist jedoch nicht zu erwarten, dazu ist der Trainer aktuell noch zu überfordert mit der Größe der Aufgabe. Das bedeutet nicht, dass Sahin nicht doch noch ein guter Trainer für den BVB werden könnte - jedoch nur perspektivisch und nicht in naher Zukunft. Dass Sahin die benötigte Zeit bekommen wird, scheint vor dem Hintergrund der Bedeutung der Champions-League-Teilnahme schwer vorstellbar.
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