Kommentar: Der Klassiker ist kein Klassiker mehr - und das ist nicht schlimm

Am kommenden Wochenende steht das Spitzenspiel der Fußball-Bundesliga zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund an, und irgendwie merkt man schon im Vorfeld: Das ist nicht mehr das, was es einmal war.
Ewige Rivalen: FC Bayern und der BVB - Arjen Robben und Neven Subotic
Ewige Rivalen: FC Bayern und der BVB - Arjen Robben und Neven Subotic / CHRISTOF STACHE/GettyImages
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Wenn man sich mit dem Begriff 'Klassiker' auseinandersetzt und ihn unabhängig vom Fußball definiert, findet man häufig eine Verbindung zu besonders guten Weinen. Im italienischen ist ein 'Classico' zum Beispiel ein Begriff für Weine, die aus einem bestimmten Anbaugebiet stammen. Er kennzeichnet aber auch die naturbelassensten und renommiertesten Lagen innerhalb größerer Weinbaugebiete. Es bedarf wohl keines allzu großen Wein-Verständnisses, um zu erkennen, dass mit diesem Begriff zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es sich in erster Linie um eine Bezeichnung für ein sehr hochwertiges Produkt handelt, das über Grenzen hinaus viele Bewunderer findet und begeistert. In der Antike hieß es lateinisch einst: "In vino veritas" - im Wein liegt die Wahrheit.

Wenn man diese Definition nun etwas weiter fasst, den Begriff verdeutscht und sich kurz vom Thema Wein entfernt, dann bleibt als Kern der Sache vor allem, dass es sich bei einem Klassiker auch um etwas handelt, das sich überregionaler Beliebtheit erfreut und zudem einen hohen Wiedererkennungswert besitzt. Ein Klassiker steht also auch für große Tradition und hat sich diesen Namen über Jahre hinweg verdient.

Endlich zum Fußball

Übertragen auf den Fußball - endlich kommen wir zum Kern des Themas - finden sich gerade im spanischsprachigen Raum viele dieser Begriffe im berühmten spanischen Clasico wieder und kennzeichnen die sportlichen Wahrheiten anhand verschiedener Eckpunkte. Beispielsweise zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid, aber auch im argentinischen Superclasico zwischen den Boca Juniors und River Plate in Buenos Aires liegen Klasse, Rivalität und Tradition eng beieinander. Kein Wunder also, dass auch das deutsche Duell der beiden einst Klassenbesten zum deutschen Clasico - oder eben zum Klassiker - wurde.

Der Grund lag darin, einem großen Spiel einen dementsprechend klangvollen Namen zu verpassen. Ein Gütesiegel, das dieses Aufeinandertreffen zum Zeitpunkt seiner Entstehung (wohl rund um das Champions-League-Finale 2013) ganz sicher auch verdient hatte. Doch gerade in der jüngeren Vergangenheit blieb das Duell zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund oft hinter den enormen Erwartungen zurück und wenn man ehrlich ist, ist vom Glanz vergangener Tage nicht mehr viel von diesem Klassiker übrig geblieben. Genau deshalb ist der Klassiker für mich auch kein Klassiker mehr.

Der König aller Klassiker: Real Madrid gegen den FC Barcelona
Der König aller Klassiker: Real Madrid gegen den FC Barcelona / DANI POZO/GettyImages

Vom Spitzenwein zur Traubenschorle

Am kommenden Samstag stehen sich Bayern und Dortmund in der Bundesliga wieder gegenüber, doch das Kribbeln von früher fehlt irgendwie. Sind wir doch mal ehrlich: Der Klassiker wirkt heute bei vielen nicht mehr wie ein Duell guter Spitzen-Weine. Vielmehr hat sich bei vielen inzwischen ein gewisser Wertverlust dieses so großen Begriffs eingeschlichen, der allenfalls noch einem Vergleich zwischen rotem und weißem Traubensaft standhält. Die Gründe dafür sind vielfältig und es muss ebenso gesagt werden, dass auch eine guter Traubensaft schmecken kann.

Blicken wir zurück in die Vergangenheit, als sich diese Beschreibung eines traditionsreichen Spiels deutscher Vereine anschickte, zu einem großen Begriff in der weltweiten Fußballberichterstattung zu werden.

Wer an das Champions-League-Finale 2013 denkt, denkt sofort auch an ein Duell auf Augenhöhe zweier Rivalen, die zu diesem Zeitpunkt in anderen Sphären schwebten als die restliche Konkurrenz. Nach einer langen und nur selten durchbrochenen Dominanz des FC Bayern gelang es dem BVB 2011 und 2012, die Bayern vom Thron der Bundesliga zu stoßen. Zweimal in Folge schnappten die Dortmunder mit Trainer Jürgen Klopp dem deutschen Rekordmeister den Titel vor der Nase weg. Von Oktober 2010 bis Mai 2012 gewann Borussia Dortmund alle Duelle gegen die Münchner - darunter das DFB-Pokalfinale 2012 -, entwickelte sich zum härtesten Rivalen um die Vorherrschaft im deutschen Fußball und sorgte dafür, dass sich der FC Bayern seiner nationalen Titel über Jahre nicht mehr sicher sein konnte.

Kein Wunder also, dass die Bayern beim Finale der Königsklasse 2013 die Alarmglocken scharf gestellt hatten. Hätten die Bayern nach dem verlorenen Finale Dahoam im Vorjahr auch noch das CL-Finale gegen den BVB verloren, hätten viele von einer vermeintlichen Wachablösung in Deutschland gesprochen. Es war ein Duell voller sportlicher Brisanz und dem unbedingten Zwang, sich durchsetzen zu müssen, um zu zeigen, wer die dicksten Trauben an Deutschlands Fußball-Reben hängen hat. Wieviel Dampf für den FC Bayern auf dem Kessel war, zeigte sich nach dem knappen Sieg in diesem Spiel mehr als deutlich.

Was dem Klassiker heute im Vergleich zu damals fehlt: Identifikationsfiguren!

Auch der Blick auf die Kader beider Vereine war über Jahre hinweg geprägt von einer Vielzahl erstklassiger Fußballer, die neben hoher sportlicher Qualität immer auch einen sehr hohen Identifikationsgrad mit dem jeweiligen Verein aufwiesen. Allein im damaligen Champions-League-Finale strahlten Spieler wie Neuer, Alaba, Lahm, Schweinsteiger, Müller, Robben, Ribéry oder Javi Martinez das große Mia San Mia des Rekordmeisters aus.

Startelf FC Bayern CL-Finale 2013
Startelf FC Bayern CL-Finale 2013 / Shaun Botterill/GettyImages

Auf Seiten der Schwarzgelben hielten Spieler wie Weidenfeller, Subotic, Schmelzer, Hummels, Piszczek, Blaszczykowski, Reus, Großkreutz oder Bender mit echter Liebe dagegen.

Startelf BVB CL-Finale 2013
Startelf BVB CL-Finale 2013 / Laurence Griffiths/GettyImages

Sie alle verkörperten ihren Verein mit Haut und Haar und standen für den großen Erfolg ihrer Farben. Umso wichtiger war es für alle Fans dieser Fußball-Giganten, dass die Identifikation mit den Akteuren auf dem Rasen so groß war, was dem Klassiker seinen besonderen Glanz und seine große Bedeutung verlieh.

Das hat er in den Folgejahren bis zu einem gewissen Grad aufrecht erhalten können, auch wenn es mit der Zeit immer weniger wurde. Auch deshalb, weil viele dieser Akteure heute nicht mehr bei beiden Vereinen aktiv sind und sich beide Klubs auch gefühlt mitten im Umbruch befinden, was die Bedeutung und Brisanz dieses Spiels auf die großen Namen der Vereine und die vergangenen goldenen Jahre dieses eigentlich so großen Duells reduziert. Das liegt auch daran, dass der deutsche Klassiker als solcher über keine so lange Tradition verfügt wie die Clasicos in Spanien oder Argentinien und auch von seinem Identifikationszweikampf gelebt hat.

Wenn man sich die beiden Mannschaften heute anschaut und das Endspiel 2013 als Maßstab nimmt, muss man leider feststellen, dass sich die Identifikationsfiguren auf beiden Seiten in Grenzen halten. Wer sind auf Seiten der Schwarz-Gelben heute die Spieler, die echte Liebe vermitteln? Nico Schlotterbeck, dem man das in Zukunft durchaus zutrauen würde, fällt verletzt aus, Emre Can und Julian Brandt haben ihre Zeit bei den Borussen nicht gerade von Kritik unbeschadet überstanden. Und dann? Ja, dann wird es mau mit Spielern, die das verkörpern, was 2013 noch verkörpert wurde.

Und bei den Roten? Da sieht es nicht viel besser aus. Manuel Neuer ist noch da, Joshua Kimmich ist mittlerweile in diese Rolle hineingewachsen, auch Thomas Müller ist noch aktiv, spielt aber beim Rekordmeister keine sportlich auch nur annähernd so bedeutende Rolle mehr - worüber man wohl jederzeit streiten kann. Aber dann? Wer sind dann die anderen Spieler, die neben ihrer großen sportlichen Klasse auch die von den Fans geliebten Gesichter sind und dabei in ihrer Leistung nahezu unantastbar oder zumindest auf einem Niveau sind, dass ihnen Fehler schnell verziehen werden? Ein Robbery 2.0 existiert in München einfach nicht.

Der Klassiker ist sportlich nicht mehr das, was ihn einst zum Klassiker gemacht hat

Natürlich spielt der sportliche Abgesang des BVB in dieser Saison eine zusätzliche Rolle, aber vor allem hat der Klassiker für mich durch das Fehlen von großen Identifikationsfiguren an Bedeutung verloren. Es ist zwar immer noch ein traditionsreiches Duell großer deutscher Vereine, aber das ist es eben auch, wenn Bayern gegen Gladbach oder Bremen spielt. Der Klassiker hat an Wert eingebüßt, auch wenn ein Sieg noch immer Balsam für die jeweilige Fanseele sein kann.

Ich bin mir aber relativ sicher, dass den BVB-Fans eine sichere CL-Qualifikation lieber wäre als unbedingt ein Sieg in diesem bevorstehenden Duell gegen die Bayern. Wenn es klappt, ist es schön, wenn nicht, ist es auch kein Weltuntergang. Dann müssen die Punkte woanders her. Die Rivalität von einst hat sich etwas normalisiert, wenngleich das Aufeinandertreffen beider Klubs noch immer irgendwie eine Sonderstellung genießt. Auch weil die Prioritäten der beiden Vereine derzeit nicht aufeinander zugeschnitten sind. Dortmund kämpft um Europa - Bayern nach der Pleitesaison im letzten Jahr dringend um (mindestens) einen Titel.


FC Bayern vs. BVB - Die Bilanz

  • Spiele: 135
  • Siege Bayern: 67
  • Siege BVB: 35
  • Unentschieden: 33
  • Torverhältnis: 262:166

Beide Vereine sind aktuell dabei, eine gesunde Zukunft auf ein neues Fundament zu stellen und zeitgleich den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Mit derzeit noch überschaubarem Erfolg. Aber bleiben wir beim Einstiegsthema: Es wird versucht, einen neuen Weinberg zu bepflanzen, aus dessen Trauben bald wieder prämierte Spitzenweine entstehen. Weine, die man sich auf der Zunge zergehen lässt und von denen man auch dann noch schwärmt, wenn die Flasche mal korkt. Weine, die halten, was der Qualitätsanspruch verspricht, aus Trauben, die genügend Sonne abbekommen haben und die jedem Konsumenten ein freudiges Lächeln ins Gesicht zaubern. Das ist derzeit sicher nicht der Fall. Allzu oft träumt man von Duellen dieser Klubs mit den Maßstäben von damals und ist dann enttäuscht, wenn der Wein etwas fad schmeckt.

Der Klassiker verdient seine Bezeichnung nicht - so hart das auch klingt

Betrachtet man die in der Vergangenheit recht hoch gelegten Qualitätsstandards unseres Klassikers, so muss man feststellen, dass aufgrund des massiven Umbruchs in beiden Vereinen derzeit nicht von einem Duell der Giganten gesprochen werden kann - auch wenn der FC Bayern zumindest ergebnistechnisch etwas besser dasteht als der BVB. Doch der größte Rivale der Münchner ist derzeit nicht Dortmund, sondern Bayer 04 Leverkusen. Von einem Klassiker kann also schon aus diesem Blickwinkel keine Rede (mehr) sein. Und das ist auch nicht schlimm.

"Im Wein liegt Wahrheit - und mit der stößt man überall an."

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Das heißt ja nicht, dass der nächste Jahrgang nicht ein bisschen mehr Sonne abbekommt, der Boden, auf dem er wächst, nicht nährstoffreicher ist und die Qualität des Endprodukts nicht wieder dafür sorgt, dass eine gute Flasche Bayern gegen Dortmund auf die Tische der fußballerischen Spitzenrestaurants landet, wo sie ihrem großen Namen und allen Versprechen, die man in sie setzt, gerecht wird.

Genießen wir das Spiel Bayern gegen Dortmund am kommenden Samstag also als das, was es ist: Ein ganz normales Bundesligaspiel mit einer nicht ganz so normalen Vergangenheit. So hart das nun für jedes deutsche Fußballherz klingen mag. Aber wie sagte einst schon der deutsche Philosoph Friedrich Hegel: "Im Wein liegt Wahrheit - und mit der stößt man überall an."

Auf bald wieder bessere Zeiten - Prost!


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